Finnisches Blut
seiner Tochter einen Schmatz auf die Wange, bevor die beiden im Treppenflur verschwanden. Er hatte erwartet, daß diese Neuigkeit seine Frau interessierte, denn das bedeutete ja möglicherweise auch für sie Ruhm und Mammon, selbst wenn er ihr schon lange gleichgültig war.
Ratamo schlurfte durch die Wohnung zum Schlafzimmer und wich dabei den Spielsachen und Kleidungsstücken aus, die auf dem Fußboden herumlagen. Wenn sie genauso oft aufräumen würden, wie sie sich stritten, wäre es bei ihnen zu Hause so sauber wie im Labor der vierten Sicherheitsstufe.
Gegen Mittag drang das ohrenbetäubende Geräusch der Presse des Müllautos in Ratamos Bewußtsein. Noch halb im Schlafe suchte seine Hand automatisch nach der nackten Haut seiner Frau. Erst als er das kühle Laken spürte, begriff er, daß Kaisa schon lange gegangen war. Und er konnte mitten an einem Arbeitstag in aller Ruhe noch im Bett liegen, das war ein wunderbares Gefühl.
Ratamos gute Laune ließ nach, als ihm das morgendliche Gespräch mit Kaisa einfiel. Sie hatten sich allmählich so weit auseinandergelebt, daß es kaum noch gemeinsamen Gesprächsstoff gab.
Er hatte Kaisa vor acht Jahren bei einem Skiurlaub in Innsbruck kennengelernt. Nach Meinung aller gaben sie ein perfektes Paar ab: Beide stammten aus angesehenen Familien, beide waren Medizinstudenten, jung und schön. Die Frage, ob er Kaisa liebte, hatte er sich selbst jedoch nie beantworten können. |25| Und das hatte er schließlich so verstanden, daß er sie nicht liebte. Die Ehe wurde von der sechsjährigen Nelli zusammengehalten, seinem einzigen echten Lebensinhalt. Noch war er nicht bereit, dessen Verlust durch die Trennung von seiner Frau zu riskieren.
Ratamo hatte in der letzten Zeit viel über sein Leben nachgedacht und erkannt, daß er schon immer den Weg vorprogrammierter Entscheidungen gegangen war, auf dem auch die Ehe nur eine Etappe darstellte. Er hatte zugelassen, daß andere Menschen und die Wertvorstellungen der Gesellschaft über sein Leben, über die Wahl der Ehefrau, der beruflichen Laufbahn und des Wohnorts – kurz, über fast alles bestimmten.
Mit zwanzig Jahren hatte sich Ratamo für alles mögliche interessiert, nur nicht für Medizin und den Beruf des Wissenschaftlers. Nach dem Abitur und dem Wehrdienst war er etwa zwei Jahre lang kreuz und quer durch den Fernen Osten gereist. Wegen einer Frau war er fast ein Jahr lang in Hanoi geblieben. Fortgesetzt hatte er seine Reise erst, als Hoangs Vater überraschend mitteilte, daß er für seine Tochter einen Bräutigam besorgt hatte. Schockiert mußte Ratamo feststellen, daß Hoang sofort von dem Ehekandidaten begeistert war, als sie erfuhr, daß er ein Auto besaß. Hoang hatte er mittlerweile schon fast vergessen, aber Vietnamesisch konnte er immer noch, was allerdings in Finnland genauso nützlich war wie eine Sonnenbrille im dunklen Winter Lapplands. An seine Wanderjahre erinnerte er sich gern, es waren die besten Jahre seines Lebens. Nichts geht über dieses Gefühl der Freiheit, das ein Wanderer mit seinem Rucksack empfindet, wenn er auf der Karte sein nächstes Ziel auswählt.
Als er nach Finnland zurückgekehrt war, vertrieb er sich die Zeit mit Feiern, Sport und Lesen. Doch schließlich mußte er |26| sich für irgendeinen Beruf entscheiden. Sein Vater, Professor für Virologie an der Universität, lamentierte ständig, daß die Talente seines Sohns ungenutzt blieben, wenn er eine andere Laufbahn einschlüge als die des Wissenschaftlers. Seine Mutter war an Krebs gestorben, als Ratamo sieben Jahre alt war. Der verbitterte Vater hatte sich danach ganz in seine Arbeit vergraben, das einzige, was er für seinen Sohn übrig hatte, war eine militärisch strenge Disziplin zu Hause. Selbst bei der Berufswahl hatte Ratamo keine eigene Entscheidung treffen können, sondern sich zu einem Medizinstudium überreden lassen. Schon bei der Wahl des Studiums wußte er, daß sie aus falschen Beweggründen zustande gekommen war: auf Druck seines Vaters und wegen des Geldes – und nicht durch sein eigenes Interesse.
Sein gutes Gedächtnis und der brennende Wunsch, die Schulbank zu verlassen, halfen Ratamo, das Studium schnell abzuschließen, wenn auch mit ziemlich schlechten Noten. Er hatte sich zwar auf die Virologie spezialisiert, war aber dennoch überrascht, als die Virologische Abteilung der EELA ihm die Möglichkeit anbot, Viren und Krankheiten zu erforschen, die von Tieren auf den Menschen übertragen wurden. Er vermutete, daß
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