Fischland-Rache
dir Gott! Hier aufzutauchen. Ausgerechnet hier!«
Heinz stapfte aus der Küche, und Kassandra hörte ihn auf dem Flur rumoren, bis er in Mantel und Mütze zurückkam.
»Tut mir leid, Kassandra, bitte geh jetzt. Ich hab was zu erledigen.«
Kassandra war zu perplex, um zu widersprechen oder nachzufragen. Als sie wieder drauÃen stand und Heinz davoneilen sah, war sie beunruhigter als zuvor. Sascha Freese schien nicht nur bei Paul ein ausgesprochen unbeliebter Mann zu sein. Sie überlegte, was sie nun tun sollte, und entschloss sich schlieÃlich, doch bei Paul zu warten. Diesmal nahm sie den Umweg über die ParkstraÃe. Je länger sie unterwegs war, desto gröÃer die Chance, dass sie Paul zu Hause antraf. Zwischen den Häusern der ParkstraÃe hindurch schaute sie zum immer noch brachliegenden Gelände der Seefahrtschule hinüber. Etwas unheimlich stand das groÃe, baufällige Gebäude vor dem dunklen Abendhimmel. Die Pläne, die im Sommer für einen Umbau zu einem Hotel geschmiedet worden waren â die x-ten im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte â, lagen derzeit auf Eis. Kassandra durchquerte ein kleines Waldstück und betrat gegenüber der alten Seenotstation mit den zwei groÃen grünen Toren und dem alten Rettungsboot die StrandstraÃe. Ein Stück die StraÃe hinauf stand das Grandhotel »Dünentraum«, das sich trotz seiner modernen Bauweise gut in die Umgebung integriert hatte. Gerade strebte ein Mann dem Eingang zu, den Kassandra sofort wiedererkannte, als er eine Laterne passierte. Offenbar funktionierten Sascha Freeses Antennen ebenso gut wie Pauls, er schien zu spüren, dass er beobachtet wurde, und hob den Kopf in ihre Richtung. Als ihre Blicke sich trafen, blieb er stehen und wartete, bis sie herangekommen war.
»Was wollen Sie von Paul?«, fragte sie ohne Umschweife.
Er betrachtete sie nachdenklich. »Das wollen Sie nicht wissen«, antwortete er mit einem Lächeln, das beinah echt wirkte. »Dazu lieben Sie ihn zu sehr. Das tun Sie doch, oder, Kassandra? Ich sehâs Ihnen an. Mein Rat ist: Fragen Sie ihn nicht danach. Niemals.« Damit wandte er sich ab und betrat das Hotelfoyer.
Nachdenklich setzte Kassandra ihren Weg fort. Seine Worte und Pauls eigene mysteriöse Andeutung vor so langer Zeit verunsicherten sie. Andererseits wollte sie Paul keinesfalls bedrängen. Nicht weil Sascha ihr davon abgeraten hatte, sondern weil Paul ihr das, was er zu sagen hatte, von selbst erzählen musste. Falls er sich entschied zu schweigen, würde sie das akzeptieren.
Diesmal war Paul zu Hause. Er hatte sich ein Bier aus dem Kühlschrank geholt, Flaschenöffner und Kronkorken lagen noch auf der Arbeitsfläche der beleuchteten Küchenzeile, der einzigen Lichtquelle im Raum. Paul stand in der geöffneten Terrassentür. Als Kassandra näher trat, sah sie, dass er in der einen Hand die Flasche hielt und in der anderen eine glimmende Zigarette. Paul rauchte selten â seit dem Mord damals hatte sie ihn mit keiner Zigarette mehr gesehen. Obwohl er sie gehört haben musste, blieb er, wo er war, zog an seiner Zigarette und starrte nach drauÃen.
»Paul«, sagte sie leise.
Endlich reagierte er auf ihre Anwesenheit. Er schnippte die Kippe zu Boden und trat sie aus. Normalerweise hätte er sie aufgehoben, doch er lieà sie liegen und drehte sich nur um. Sein Gesicht war grau. Kassandra nahm ihm die halb leere Flasche aus der Hand, stellte sie auf die Erde und lehnte sich an ihn. Einen winzigen Moment lang hatte sie den Eindruck, er wolle zurückweichen, aber sie blieben so stehen, bis er langsam die Arme um sie legte. Wieder standen sie ein, zwei Minuten so da, dann nahm Paul Kassandras Gesicht zwischen seine Hände, betrachtete sie ausdruckslos und beugte sich schlieÃlich zu ihr hinunter, um sie so fordernd zu küssen, als hinge sein Leben davon ab. Kassandra spürte, dass es Verzweiflung war, die ihren Ausdruck in seiner Leidenschaft fand. Bald allerdings vergaà sie das, weil andere Gefühle von ihr Besitz ergriffen. Paul führte sie an einen Ort, an dem sie nie zuvor, nicht einmal mit ihm, gewesen war.
Kassandra wusste nicht, was sie geweckt hatte, aber im Halbschlaf durchflutete sie eine neue Welle des Verlangens, und sie tastete nach Pauls Körper unter der Decke. Es dauerte etwas, bis sie registrierte, dass er nicht da war. Mit einem Mal hellwach, richtete sie
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