Fischland-Rache
und sieben jedoch wider Erwarten etwas weg. Als sie wieder zu sich kam, war ihr übel vor Angst. Sie rief Bruno an, doch der hatte Paul vergeblich gesucht. Eilig zog sie sich an, hastete durch strömenden Regen zu ihrer Pension, um für ihre beiden derzeit einzigen Gäste das Frühstück vorzubereiten, trocknete notdürftig ihre Haare, schnappte sich ihr Fahrrad und machte sich sofort wieder auf den Weg.
Mittlerweile war es Viertel vor acht, es begann hell zu werden, der Regen lieà nach und hörte bald ganz auf. Kassandra bog gerade vor der Seebrücke nach rechts in die StraÃe hinter der Düne ab, da heulte hinter ihr jäh ein Martinshorn auf. Alarmiert lenkte sie ihr Rad an den Grünstreifen und hielt an, gerade früh genug, um nicht von dem grauen Wagen erfasst zu werden, der mit Blaulicht und ohne Rücksicht auf Geschwindigkeitsbegrenzungen an ihr vorbeiraste. Ihr blieb fast das Herz stehen. Was hatte das zu bedeuten? Wie vom Teufel gejagt trat sie wieder in die Pedale. Der Wagen vor ihr wurde am Hooghass zwangsweise langsamer. Dort erhob sich wie ein Wahrzeichen das aus dunkelrotem Backstein und mit Rohrdach erbaute »Haus am Deich«, und die ohnehin enge StraÃe wurde noch etwas schmaler. Kassandra holte ein Stück auf, doch viel half ihr das nicht. Das Auto, das an Pauls Haus vorbei weiter in Richtung Steilufer fuhr, wurde immer kleiner, der Fahrer musste nur noch zweimal kurz das Tempo drosseln, weil ihm ein Jogger und ein Radfahrer entgegenkamen. Von Weitem sah sie, wie der Wagen unmittelbar am ersten Strandübergang stoppte, wo das Hohe Ufer richtig begann und mehrere Wege und ein Trampelpfad zusammentrafen. Hinter dem grauen Auto flatterten Absperrbänder im Wind, daneben standen ein Streifenwagen, ein weiteres Zivilfahrzeug, ein Rettungs- und ein Leichenwagen. Zu viel Verkehr für diese Stelle, an der motorisierte Fahrzeuge ohnehin unüblich waren. Kassandra hatte ein vergleichbares Aufgebot schon mal gesehen â vor ihrem Haus, als sie die Leiche des Kunstgutachters gefunden hatte.
Nur am Rande bemerkte sie, dass zwei Männer aus dem grauen Wagen stiegen, von denen sich einer merkwürdig steif bewegte. Noch halb im Fahren sprang sie vom Rad, das sie achtlos fallen lieÃ. Der Mann drehte sich um, wahrscheinlich hatte er sie gehört, aber Kassandra achtete nicht auf ihn, sondern rannte keuchend an ihm vorbei. Oder wollte es, denn ein uniformierter Polizist griff nach ihr und hielt sie fest.
»Lassen Sie mich durch!«, verlangte sie und versuchte, sich loszumachen. »Bitte. Ich muss ⦠Was ist passiert?« Ãber ihr Gesicht rannen Tränen, sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte. Ihr einziger Gedanke galt Paul. Sie wischte die Tränen fort und sah, dass der Streifenpolizist sich an denjenigen der eben angekommenen Männer wandte, der hier anscheinend das Sagen hatte. Er steckte in einem dunkelblauen zerknitterten Anzug und trug einen Mantel über dem Arm.
Sie blinzelte. »Herr Dietrich?« Dann sah sie seine Augen, deren Braun eine Schattierung dunkler geworden war, und in ihr starb das letzte bisschen Hoffnung, das sie noch gehabt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er leise. »Es tut mir so leid.«
3
Kassandra hatte den Blick abgewandt, weil sie das Mitleid nicht ertragen konnte und ganz betäubt war von Schmerz und einer schrecklichen Leere. Doch dann spürte sie, dass Dietrich eine Bewegung machte, und sah unwillkürlich wieder auf. Etwas hatte sich in seinem Gesichtsausdruck verändert, seine Augen weiteten sich, während er einen Punkt hinter ihr fixierte. »Was zum �«, begann er fassungslos, dann rief er: »Lasst ihn durch.«
Wie in Zeitlupe drehte sich Kassandra um. Ein Beamter hob gerade das Absperrband vor dem steil nach unten führenden Strandübergang hoch, um Paul durchzulassen. Er musste seit Längerem drauÃen herumlaufen, seine grauen Haare waren so durchnässt, dass sie schwarz wirkten, von seiner Lederjacke perlten noch einzelne Regentropfen. Während er auf Dietrich und Kassandra zuging, wanderte sein Blick mit undurchdringlicher Miene von einem zum anderen. Kassandra brachte keinen Ton heraus, sie hörte nur wie durch Watte, was der Mann sagte, mit dem Dietrich gekommen war.
»Kann mir mal jemand erklären, was hier vor sich geht?«
»Das wüsste ich selbst gern«, fuhr Dietrich ihn an. »Was hast du mir da vorhin für
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