Fischland-Rache
Prolog
17. Â November 2011
Regen peitschte gegen die Fenster, ab und zu grollte in der Ferne ein Donner. Kriminaloberkommissar Kay Dietrich sah zu, wie die Regentropfen sich zu Rinnsalen sammelten und in Strömen an der Scheibe herunterliefen. Bei dem Unwetter hätte er die kleine Kirche auf der anderen Seite der Friedländer StraÃe nicht mal erkennen können, wenn es drauÃen schon hell gewesen wäre. Seit einer Stunde saà er hier, lange vor Beginn seines Dienstes. Er hatte schlecht geschlafen, zu Hause nur noch die Wände angestarrt und beschlossen, doch lieber was Sinnvolles zu tun. Jetzt spürte er allmählich, wie die Müdigkeit durch seinen Körper kroch, wurde jedoch abgelenkt von der Hektik, die sich drauÃen auf dem Flur ausbreitete. Er wollte schon nachsehen gehen, da klingelte das Diensthandy in seinem Mantel, den er vorhin zum Trocknen an den Schrank gehängt hatte. Unter Schmerzen erhob er sich und unterdrückte ein Stöhnen, obwohl niemand da war, der es hätte hören können.
Humpelnd erreichte er den Schrank und angelte nach dem Handy. Die Nummer lieà ihn kurz innehalten, bevor er das Gespräch entgegennahm. Wenn Geldorf persönlich anrief, musste es was wirklich Wichtiges sein.
»Dietrich«, meldete er sich knapp.
»Geldorf hier. Tut mir leid, wenn ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe.« Für ihn ganz untypisch, zögerte der Polizeidirektor der Kriminalpolizeiinspektion Anklam, als wisse er nicht recht, wie er weitersprechen sollte.
»Haben Sie nicht«, fühlte Dietrich sich genötigt zu antworten.
»Gut. Gut â¦Â« Wieder zögerte Geldorf. »Sie wissen, dass der Kollege Johannsen noch längere Zeit krank ist, sonst würde ich nicht ausgerechnet Sie schicken. Abgesehen von Johannsen sind Sie sind nun mal der Einzige mit Ortskenntnis â wovon ich mir einen gewissen Vorteil verspreche. Ich würde das nicht von Ihnen verlangen, wenn ich nicht dächte, dass Sie das hinkriegen. Johannsen denkt das übrigens auch. Wir haben telefoniert.«
Dietrich wurde unruhig. Was sollte das Rumgeeiere? Tief in ihm rührte sich ein unangenehmer Verdacht. »Was gibtâs denn?«, fragte er mit leicht ungeduldigem Tonfall.
»Eine Leiche. Ein Jogger hat den Mann heute früh gefunden«, fuhr Geldorf fort. »Erschossen. Auf dem Fischland.«
Dietrich erstarrte für einen Augenblick. »Verstehe«, sagte er dann langsam. Er musste sich auf seinen nächsten Satz konzentrieren. »Weià man schon, wer der Tote ist?«
Geldorf schien erleichtert, dass Dietrich so sachlich reagierte. »Der Kollege Harms ist auf dem Weg zu Ihnen, um Sie abzuholen, er wird Sie mit allen nötigen Informationen versorgen. Bei Ihrer Rückkehr wartet ein Team auf Sie, das Sie leiten werden.« Kein Zögern schwang mehr in Geldorfs Stimme, als er sich fast eilig verabschiedete.
Dietrich runzelte die Stirn. Er sollte die Mordkommission leiten? Dass man ihm das übertrug, war ungewöhnlich, sein Rang eigentlich nicht hoch genug. Da ging ihm auf, was Geldorf noch gesagt hatte. Tobias Harms war auf dem Weg zu ihm nach Hause. Dietrich wählte seine Nummer und erreichte ihn glücklicherweise rechtzeitig genug. Harms war gerade erst vom Hof gefahren, kehrte um und wartete unten auf ihn.
Dietrich schnappte sich seinen Mantel, holte die Dienstwaffe aus dem Schrank und machte sich humpelnd auf den Weg. Dabei kam er am Besprechungsraum vorbei, in dem schon drei Kollegen saÃen. Dietrich fiel ein, dass Geldorf nicht auf seine Frage nach der Identität des Toten geantwortet hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie noch unbekannt war, die Anwesenheit der bereits zusammengetrommelten Kollegen sprach jedoch für das Gegenteil. Er überlegte kurz nachzufragen, beschloss dann aber, keine Zeit mehr zu verlieren und sich alles von Harms erklären zu lassen.
Im Fahrstuhl lehnte er sich gegen die Wand und fuhr sich müde mit den Händen übers Gesicht. Er konnte nicht verhindern, dass ihm nun doch ein leises Stöhnen entschlüpfte. Die Schmerzen quälten ihn, als wüsste sein Körper, dass er heute noch mehr als sonst an das erinnert werden würde, was sich im Sommer auf dem Fischland abgespielt hatte.
Zu dem Zeitpunkt war er noch Kriminalkommissar ohne viel Aussicht auf Beförderung gewesen. Zu stur, zu viel eigener Kopf, dazu ein mangelnder Wille, sich unterzuordnen â alles
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