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Flamme von Jamaika

Flamme von Jamaika

Titel: Flamme von Jamaika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina André
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hatten und bereits vor fast achtzig Jahren nach hartnäckigen Kämpfen mit den weißen Plantagenbesitzern und den Soldaten der britischen Krone ihre Freiheit erstritten hatten. Ihr Vater war ein Obeah-Mann gewesen, ein schwarzer Zauberer, der die Geheimnisse der Geister und Götter der Aschanti von Afrika mit übers Meer gebracht hatte.
    «Komm herein, meine Tochter», sagte sie und schien kaum verwundert, dass Baba so spät in dieser stürmischen Nacht vor ihrer Hütte aufgetaucht war.
    Erst gestern war die Schamanin im Dorf der Sklaven von Redfield Hall gewesen und hatte vor aller Augen einen Hahn geschlachtet, um die Geister der Unterwelt zu beschwören, damit bei Jess endlich das Fieber zurückging. Obwohl die weiße Regierung einem solchen Treiben kritisch gegenüberstand, wurde es zur Heilung von Kranken geduldet. Offenbar waren Desdemonas Bemühungen von Erfolg gekrönt gewesen, denn der Junge hatte am Morgen bereits einen halbwegs munteren Eindruck gemacht. Dennoch hatte Baba beim Aufseher um eine weitere Freistellung gebeten, die bei Kindern durchaus gewährt wurde. Ein unbekanntes Fieber sollte nicht unnötig die Arbeitskraft der anderen Sklaven aufs Spiel setzen.
    Desdemona bot Baba einen Platz an dem glimmenden Lagerfeuer im Innern der Hütte an, das sie mit ein paar trockenen Ästen und Palmblättern befeuerte.
    «Ich suche meinen Sohn», sagte Baba mit gedämpfter Stimme, aus der ihre Verzweiflung herauszuhören war. «Jess ist seit heute Nachmittag verschwunden! Wir haben ihn überall gesucht.»
    Desdemona nickte verständig, sagte jedoch kein Wort. Stattdessen holte sie eine flache, offene Holzkiste hervor, deren Seiten jeweils gut eine Elle lang waren, und stellte sie auf den gestampften Boden. Dann arrangierte sie in den vier Ecken ein Stück glimmende Holzkohle, eine kleine Schale mit Wasser, ein Häufchen Sand und eine Hühnerfeder. Sie symbolisierten die vier Elemente – Feuer, Wasser, Erde und Luft. Zum Schluss nahm sie eine kleinere, verschlossene Holzschachtel vom Regal und hob vorsichtig den Deckel an. Baba erschrak, als ein sich windender, schwarzer Skorpion zum Vorschein kam. Desdemona packte das Tier trotz ihrer Blindheit geschickt am Stachel und ließ es mitleidslos in die größere Kiste fallen. Sogleich sauste der Skorpion flink umher, musste aber recht schnell erkennen, dass seine neue Freiheit begrenzt war.
    Baba kauerte sich ängstlich zusammen und beobachtete, wie Desdemona im Schein des Feuers in eine Art Trance versank und unverständliche Beschwörungsformeln murmelte. Allmählich gab der Skorpion seine hektischen Bewegungen auf und wanderte nur noch zwischen zwei Ecken hin und her: Wasser und Luft. Und obwohl die blinde Desdemona seine Bewegungen nicht in gleicher Weise mitverfolgen konnte wie Baba, erkannte sie offenbar die Zusammenhänge.
    «Dein Sohn lebt», erklärte sie schlicht, «aber er ist nicht mehr auf der Insel. Er befindet sich zusammen mit einem großen, dunkelhaarigen Mann auf dem Meer. Dieser wird von nun an sein Master sein.»
    Babas Brust durchfuhr ein gewaltiger Schmerz, so stark, dass sie nach Atem ringen musste. «Nein», flüsterte sie außer sich vor Angst. «Das darf nicht sein.»
    «Verabschiede dich innerlich von deinem Kind», fuhr Desdemona tonlos fort. «Es ist möglich, dass du deinen Sohn nie wiedersiehst.»

    Als Baba drei Stunden später durch den peitschenden Regen über die Felder rannte, fühlte sie nichts mehr. Nicht die durchdringende Nässe ihrer Kleidung, nicht den Schmerz, der in ihr wütete, und auch nicht die Ohnmacht, die sie erfüllte. Sie kannte nur noch ein Ziel: Redfield Hall, das Haus ihres Herrn.
    In der Dunkelheit zuckten die Blitze am Himmel, und mit jedem Lichtstoß leuchtete ein neues Bild vor ihrem geistigen Auge auf: wie sie Jess von seinem Vater empfing … wie ihr Leib zum ersten Mal die menschliche Frucht hielt und ihr Bauch zu einer riesigen Melone heranwuchs … wie sie den Jungen bei einer komplizierten Geburt unter heftigen Schmerzen gebar … wie er schließlich in ihren Armen lag und sein kleiner Mund gierig an ihrer Brust säugte … wie er zu einem stattlichen, jungen Burschen heranwuchs, der seinen eigenen Kopf hatte … und wie er trotz seiner Wildheit mit zärtlicher Liebe an ihr hing und vor Kummer fast verging, wenn sie ihn alleine in der Hütte zurücklassen musste, weil der Master ihre Dienste verlangte …
    Baba stolperte durch die Nacht wie ein verwundetes Tier. Verstört und völlig durchnässt

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