Flammen im Sand
die ehemalige Backstube war erheblich vergröÃert worden durch
einen Anbau, der sich parallel zur Fahrradwerkstatt tief in das Grundstück
schob. Mehrere Arbeitsplätze mit Nähmaschinen gab es dort, Schneiderpuppen
standen herum, lange Tische liefen durch den Raum, auf denen zugeschnitten und
zusammengesteckt wurde, und von der Decke baumelten, an schweren Ketten
befestigt, lange hölzerne Stangen, an denen die Kleidungsstücke hingen, die auf
Bestellung angefertigt worden waren. Der Raum war dunkel, aber das spielte
keine Rolle, da in einem Schneideratelier ohnehin mit künstlicher Beleuchtung
gearbeitet wurde.
Die Tür öffnete sich, und Geraldine Bertrand, Yvonnes Schwester, kam
vom Laden ins Atelier. Sie war eine kleine, zierliche Person mit einem runden
Gesicht und groÃen, dunklen Augen. Eine auÃergewöhnlich hübsche Frau mit
weichen Zügen, trotzdem war Mamma Carlotta davon überzeugt, dass das Zarte,
Zerbrechliche einen harten Kern verhüllte. Sie vertraute weder Geraldines
freundlichem Lächeln noch ihrer Höflichkeit. Beides erschien ihr unecht,
gespielt. Yvonne war ganz anders als ihre Schwester. Attraktiv zwar auch, aber
auf unauffällige Weise. Sie war liebenswürdig und bescheiden und schien nicht
darauf vertrauen zu können, dass sie wirklich hübsch war.
Mamma Carlotta glaubte zu wissen, woran das lag: Yvonne war mit dem
falschen Mann zusammen. Jannes Pedersen war ein unsympathischer Kerl, grob und
einschüchternd, freundlich nur, wenn er seinen Kunden etwas andrehen wollte,
was sie nicht gebrauchen konnten. Immer wenn er im Modeatelier erschien, wurde
Yvonne nervös und ängstlich, während Geraldine dem Lebensgefährten ihrer
Schwester stets den Rücken zukehrte. Ob sie ahnte, wie begehrlich er dann auf
ihre Beine starrte? Yvonne jedenfalls wusste es. Mamma Carlotta hatte schon oft
beobachtet, wie sie ihn verstohlen ansah, während er sich in Geraldines
Kehrseite vertiefte.
Trotz dieser Zurückweisung, für die Geraldine eigentlich Anerkennung
verdient hatte, machte Mamma Carlotta aus ihrer Verachtung selten einen Hehl.
Sie hatte genug von Geraldine gehört, um sich dieses Gefühl leisten zu können.
Was für ein Glück, dass Frau Kemmertöns, die Nachbarin ihres Schwiegersohns, so
gut Bescheid wusste! Die war zwar eine echte Friesin und als solche nicht
besonders gesprächig, aber wenn es um die beiden Modeschwestern ging, wie sie
Geraldine und Yvonne nannte, änderte sich das schlagartig. Frau Kemmertöns war
nämlich entfernt mit dem Baustoffhändler Tadsen verwandt und wusste, dass
Geraldine Bertrand ein Verhältnis mit ihm hatte. Mit einem verheirateten Mann!
Eine Tatsache, die Frau Kemmertöns derart empörte, dass sie ihre
Verschlossenheit vergaÃ, sobald die Rede darauf kam.
Seit Carolin ihr Schulpraktikum bei den Modeschwestern machte,
verzichtete Mamma Carlotta häufig auf ihren Espresso und trank stattdessen Tee
mit Frau Kemmertöns, um mehr über Geraldine Bertrand zu erfahren. Und was sie
nun wusste, gab ihr das Recht, der schönen Französin so zu begegnen, wie sie es
verdiente: unhöflich und geringschätzig! Wenn es sich einrichten lieÃ,
verabschiedete sie sich, sobald Geraldine aus dem Laden in die Werkstatt kam,
und radelte nach Wenningstedt zurück.
Diesmal lieà es sich einrichten. Die Mittagszeit nahte, und Carlotta
Cappella musste für ihren schwer arbeitenden Schwiegersohn und die beiden
Enkelkinder das Essen vorbereiten. Das lieà sie sich nicht nehmen! Seit Lucia
nicht mehr lebte, blieb in dem kleinen Haus am Süder Wung viel zu häufig die
Küche kalt. Solange Mamma Carlotta auf Sylt zu Gast war, sollte es dort Tag für
Tag ein gutes, nahrhaftes Essen geben. Sie hatte es oft in die Wolken geseufzt,
wo sie Lucia vermutete, und ihr fest versprochen, sich um Erik und die Kinder
zu kümmern, wann immer es ging. Und seit sie Witwe war, ging es zum Glück
mehrmals im Jahr. Dass sie Dinos Erspartes nach und nach in eine italienische
Fluggesellschaft investierte, verursachte ihr kein schlechtes Gewissen.
SchlieÃlich musste sie die Familie ihrer verstorbenen Tochter unterstützen.
Dass sie auÃerdem Freude am Reisen gefunden und Sylt mittlerweile lieben
gelernt hatte, tat dabei nichts zur Sache.
Entschlossen griff sie nach ihrer Jacke. »Scusa! Es wird Zeit für
mich.«
Yvonne Perrette lächelte freundlich. »Natürlich! Ich
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