Flammenbucht
jenseits der Brücke, nicht das Rauschen des Meeres, nicht der pfeifende Atem des Windes. Ruhe umgab den Felsen, den man auch die Schale der Träumer nannte, denn er wies eine nach innen gewölbte Oberfläche auf. Das schwefelgelbe Gestein war glatt geschliffen; Lichter spiegelten sich auf der Innenseite der Schale und erfüllten sie mit geheimnisvollem Glanz.
Inmitten der Schale, gleichsam an ihrem tiefsten Punkt, ruhte ein Schrein. Er war aus Silber gefertigt, funkelte im Licht der roten Kerzen, die ihn umgaben. Über ihm waberte eine Dampfsäule, ebenso schwefelgelb wie die Schwaden der Bucht von Harsas, doch geordneter, ruhiger. Sie verlor sich erst in beträchtlicher Höhe über dem Schrein und verschmolz dort mit den Dämpfen, die den Gelben Felsen umhüllten.
Unweit des Schreins kniete ein kahlköpfiger Greis. Er trug ein ärmelloses Hemd; an den Armen und Beinen glänzten zahlreiche Silberringe. Sein Gesicht, eulenartig aufgrund der großen Augen und der verhärmten Mundpartie, war mit Schriftzeichen bemalt, den Schutzrunen der Calindor-Loge; denn der Greis war kein Geringerer als Tene-Usfar, Großmeister der Loge. Sein Blick war auf den Schrein gerichtet, die Hände aber hatte er erhoben. Sie schienen nach etwas zu tasten, etwas Unsichtbarem, das der Wahrnehmung der übrigen Zauberer - es waren zehn an der Zahl - verborgen blieb. Nur dem Großmeister war es vergönnt, das Herz der Quelle zu erblicken.
Seit Urzeiten wachte die Calindor-Loge über die Quelle, die einst von dem Zauberer Durtha Slargo bezwungen worden war. Er hatte die Schale der Träumer seinen Schülern anvertraut, den Gründern der Loge, damit diese den Norden Arphats vor den Gewalten der Sphäre beschützen konnten. In früheren Zeiten hatte die Calindor dank der Quelle großen Einfluß im Norden gewonnen. Doch die Streitigkeiten mit den anderen Logen sowie der Aufstieg des arphatischen Reiches hatte die Calindor in die Bedeutungslosigkeit absinken lassen. Noch immer geboten die Calindori über zahlreiche Quellen, doch sie waren kaum mehr als Erfüllungsgehilfen des arphatischen Königshauses. Tag und Nacht wurden sie von den Mönchsorden überwacht, und jeder Wunsch der Königin war ihnen Befehl.
Tene-Usfar ließ die Arme sinken. Klirrend schlugen die silbernen Ringe gegeneinander und sangen das Lied der Magie, die diesen Ort umfing. Langsam erhob sich der Logenmeister und wandte sich den übrigen Zauberern zu. »Ihr habt es gesehen! Die Quelle ist milde gestimmt; nichts verzerrt ihre Ströme. Die Sphäre wird standhalten.« Tene-Usfars Stimme drückte Entschlossenheit aus. »Es wurden viele Unwahrheiten in den vergangenen Wochen verbreitet. Sie haben unsere Gemeinschaft entzweit, haben die Angst jener geschürt, die schon immer vom Kleinmut beseelt waren. Seit die Goldei in unsere Welt gekommen sind, erzittert die Menschheit vor der schrecklichen Macht dieser Wesen; die einen wollen sich ihnen kampflos ergeben, die anderen vor ihnen fliehen. Unsere Königin aber hat sich ihnen entgegengestellt, und ebenso entschlossen werden auch wir sie bekämpfen.« Er wies auf die Dampfsäule inmitten der Schale der Träumer. »Die Sphäre hat sich verändert. Die Echsen haben viele Quellen in ihre Gewalt gebracht, doch diesen Eroberungen ging stets die Unentschlossenheit ihrer Gegner voraus. Die Solcata und Malkuda haben ihnen leichtfertig den Sieg geschenkt. Wir hingegen werden kämpfen! Die Sphäre ist auf unserer Seite.«
»Ihr seid ein geschickter Redner, Tene-Usfar«, unterbrach ihn eine energische Stimme. »Doch glaubt Ihr tatsächlich den eigenen Worten? Könnt Ihr die Augen so fest vor der Wahrheit verschließen, daß Ihr Euch von den eigenen Lügen irreführen laßt?«
Tene-Usfar wirbelte herum. Über die Brücke, die zum Festland hinüberführte, hatte eine Gruppe speerbewaffneter Mönche den Gelben Felsen betreten; etwa dreißig Bena-Kubith mit goldbestickten Umhängen. An ihrer Spitze schritt eine Priester in; dürr ihre Gestalt, der Gang kämpferisch. Sie war mittleren Alters, ihr dunkles Haar war von silbrigen Fäden durchzogen. Das goldgeschminkte Gesicht wies sie als höchste Geweihte des Todesgottes aus.
»Wahrheit und Lüge sind in diesen Zeiten schwer auseinanderzuhalten«, fuhr die Priesterin fort, »und die Calindor war stets begabt darin, die Grenzen zwischen beiden zu verwischen.« Sie bedeutete den Bena-Kubith, sich auf der Felseninsel zu verteilen. Mit gesenkten Speeren trieben sie die Zauberer unweit der Brücke
Weitere Kostenlose Bücher