Fleisch und Blut - Der Kannibale
Seine Finger waren steif vor Aufregung, als er schrieb:
Interview mit Lex Reinwarth
Ein über das ganze Gesicht strahlender Reini sass dem Chefredaktor gegenüber. Der ultimative Moment – sein Moment – hielt Einzug. Genauso erging es Reini. Er, der über allem und jedem stand, der Herr seiner Begierden. Sein Publikum würde morgen von seiner Existenz und Besonderheit erfahren. Es war sein innigster Wunsch, seine Freude mit der Gesellschaft teilen. Die Aufmerksamkeit galt ihm ganz alleine.
Der Chefredaktor begann mit seinem ersten Vorstoss: «Erzählen Sie mir aus Ihrer Kindheit, Herr Reinwarth.»
Die erste Enttäuschung machte sich sichtlich im Gesicht des Mörders breit: «Sie wollen mit mir wirklich um den heissen Brei herumreden? Das können Sie gerne haben. Ich habe alle Zeit der Welt.»
«Die Hintergründe interessieren den Leser genauso wie Ihre Persönlichkeit.»
«Wie Sie wünschen. Ich habe Aemisegger mein Ehrenwort gegeben und werde Ihnen alle Ihre Fragen beantworten. Was soll ich sagen, meine Kindheit war trist, die Familie zerrüttet. Nichts Besonderes in der heutigen Zeit. Als ich zwölf Jahre alt war, hat mein Vater uns verlassen, nicht räumlich, aber dafür emotional. Er lebte weiterhin auf dem Hof und hat sich zu Tode gesoffen. Ich konnte ihm nicht helfen. Ich bin es mir inzwischen gewohnt, einen geliebten Menschen zu verlieren.»
«Und Ihre Mutter, wie ist sie damit umgegangen?»
«Ach, meine Mutter ist nicht der Rede wert. Sie hat sich nicht um mich gekümmert, ich war ihr wohl zu viel. Sie hatte wohl einen Hass auf Männer entwickelt, denn sie verlangte immer am Sonntag, dass ich Mädchenkleider anziehe. Ich hasse sie dafür!»
«Blieb der Kontakt mit Ihrem Vater erhalten?»
«Eher als zur Mutter. Das Ritual hat uns verbunden. Mein Vater war Schweinezüchter mit hofeigenem Schlachtraum. Ich durfte den Ritualen oft beiwohnen. Wissen Sie, die Tiere mussten nie leiden. Und sie haben ausgesprochen gut geschmeckt. Oft vergass meine Mutter, mir Essen zuzubereiten. Mein Vater stellte mir immer ein saftiges Stück Fleisch hin. Dadurch wurde ich stark und kräftig.»
Der Chefredaktor kam beim Schreiben richtig in Fahrt. Es schauerte ihn wohl. Bis jetzt war sich Tägli nicht bewusst, wie sehr er sich in Gefahr begeben hatte. Viel zu sehr fixierte er sich auf sein Interview. Er entschied, nicht länger auf einem Nebenschauplatz die Fragen zu stellen und kam gleich zur Sache: «Wann wünschten Sie sich das erste Mal, einen Menschen zu töten?»
«Schwierig zu sagen, in welchem Alter ich den ersten Impuls wahrnahm. Erst verspürte ich eine Art Erregung beim Gedanken an Menschenfleisch. Es zu tun, also zu morden für meine Gelüste kam erst später, wobei ich erstmals mit 13 Jahren mit dem Gedanken spielte. Ich habe mir vorgestellt, wie ich meinen Schulfreund tötete und seine Leiche zerstückelte. Der Gedanke daran löste etwas sehr Behagliches in mir aus. Ich fühlte mich stark und entspannt zugleich. Es gab mir ein Gefühl der Macht, der Genugtuung. Ich weiss, Sie können es nicht verstehen, doch es war so. Später hatte ich die Fantasie eines imaginären Bruder, den ich am liebsten geschlachtet und anschliessend gegessen hätte.»
«Sie sprechen von Männern, die Sie in ihren Vorstellungen schlachten. Wollten Sie auch Frauen essen?»
«Frauen? Nein. Ich wollte immer nur das Fleisch der Männer.»
«Welcher Körperteil schmeckt Ihnen besonders?»
«Da muss ich überlegen. Mein allererster Bissen war ein Stück Rücken, ein Filetstück von ausgezeichneter Qualität.»
«Sie sprechen davon, als wäre es das Natürlichste auf der Welt.»
«Das ist es für mich auch. Für Sie nicht, Herr Tägli? Sprechen Sie mal mit Herrn Aemisegger, er durfte davon kosten.»
Man hörte unruhiges Auf- und Abgehen draussen vor der Stubenzimmertür. Tägli bemerkte, dass die Kommissare und die Detektivin jedes Wort mitgehört hatten.
«Verspüren Sie gar keine Scham? Wo ist Ihre Moral geblieben, Herr Reinwarth?»
«Scham, wozu? Ich mach doch nichts Illegales. Man darf doch Menschen essen, oder?»
«Ist das so?»
«Mein Blick ins Gesetzbuch sagte mir: ins Gefängnis kommt man nur wegen Leichenschändung und Störung der Totenruhe oder dem Verdacht auf Grabschändung. Natürlich macht man sich mit Mord und Totschlag haftbar.»
«Haben Sie sich strafbar gemacht?»
«Wie soll ich sagen: was ist, wenn man für den Tod seines Dinners nichts kann? Wenn man selber nur überleben
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