Flieh Wenn Du Kannst
Monroe geschaffen hat. »Joan«, sagte Bonnie vor sich hin und versuchte, das Wort in zwei Silben zu drehen, um es weicher zu machen, freundlicher. Jo-an. Jo-an. Es klappte nicht. Auch der Name blieb hartnäckig so, wie Joan im Leben war, unveränderbar, nicht zu retuschieren oder weichzuzeichnen.
Sie war eine imposante Frau, fast einen Meter achtzig groß, mit großen braunen Augen, von denen sie gern sagte, sie seien dunkel wie Zobel, flammend rotem Haar, das sie als tizianrot zu bezeichnen pflegte, und einem spektakulären Busen. Alles an ihr war Übertreibung, und dies war zweifellos einer der Gründe für ihren Erfolg als Immobilienmaklerin.
Was mochte sie diesmal wieder in petto haben? Warum das Melodram? Was war so kompliziert, daß sie es nicht am Telefon besprechen konnte? Was für eine Gefahr sollte das sein, von der sie gesprochen hatte?
Bonnie zuckte mit den Achseln. Sie würde es bald genug herausfinden, sagte sie sich.
Um zwölf Uhr achtunddreißig lenkte Bonnie ihren weißen Caprice in die Einfahrt des Hauses Lombard Street 430 – durch einen Verkehrsunfall war sie unterwegs aufgehalten worden und hatte über eine halbe Stunde bis hierher gebraucht. Sie stellte ihren Wagen direkt hinter Joans rotem Mercedes ab. Joans Geschäfte florierten offensichtlich. Trotz der Schwankungen auf dem Immobilienmarkt schien sie die letzte längere Durststrecke gut überstanden zu haben. Ja, Joan war eben eine Überlebenskünstlerin. Nur die in ihrer Nähe kamen um.
Dieses Haus dürfte nicht schwer zu verkaufen sein, dachte Bonnie, als sie, in die kühle Sonne blinzelnd, an dem großen Schild im Vorgarten vorüberging, auf dem die öffentlichen Besichtigungszeiten angekündigt waren. Es war ein einstöckiges Haus mit viel Holz, wie die meisten Häuser in diesem gediegenen Vorort von Boston, und hatte offensichtlich erst vor kurzem einen frischen weißen Anstrich erhalten. Bonnie stieg die Stufen zur vorderen Veranda hinauf. Die schwarze Haustür war nur angelehnt. Bonnie klopfte schüchtern, stieß die Tür dann ein Stück weiter auf. Augenblicklich hörte sie Stimmen aus einem der hinteren Zimmer. Die Stimmen eines Mannes und einer Frau. Vielleicht Joan. Vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise mitten in einer Auseinandersetzung. Es war schwer zu sagen. Auf jeden Fall würde sie nicht lauschen. Sie würde ein paar Minuten warten, ein paarmal diskret hüsteln, die Leute wissen lassen, daß noch jemand im Haus war.
Sie sah sich um, nahm eines der Kurzexposés, die Joan in einem Stapel auf einem kleinen Hocker im Eingangsbereich bereitgelegt hatte. Dem Informationsblatt zufolge hatte das Haus eine Gesamtwohnfläche von zweihundertachtzig Quadratmetern, mit vier Schlaf-oder Gästezimmern im oberen Stockwerk und einem ausgebauten Souterrain. Im Erdgeschoß teilte eine breite Treppe das Haus in zwei symmetrische Flügel, auf der einen Seite das Wohnzimmer, auf der anderen das Eßzimmer. Küche und Arbeitszimmer befanden sich im hinteren Teil. Irgendwo dazwischen war ein Badezimmer.
Bonnie räusperte sich, zuerst gedämpft, dann noch einmal, lauter. Die Leute im hinteren Teil des Hauses redeten weiter. Sie sah auf ihre Uhr, ging dann etwas zaghaft ins Wohnzimmer, das ganze in Beige und Creme gehalten war. Sie würde bald gehen müssen. Sie würde sowieso schon zu spät zurückkommen und den ersten Teil des Nachmittagsvortrags zu der Frage, wie die Schulen von heute sich auf die Teenager von heute einstellen sollten, verpassen. Wieder sah sie auf ihre Uhr und klopfte mit dem Fuß ungeduldig auf den Parkettboden. Es war wirklich absurd. Es war ihr unangenehm, Joan zu stören, während diese sich bemühte, einen Abschluß zu machen, Tatsache war jedoch, daß Joan sie ausdrücklich gebeten hatte, vor eins hier zu sein, und bis zur vollen Stunde fehlte nicht mehr viel.
»Joan!« rief sie und ging in den Eingangsbereich zurück und wandte sich in Richtung Küche.
Das Gerede ging weiter, als hätte sie keinen Ton von sich gegeben. Sie hörte abgerissene Sätze – »Nun, wenn diese Gesundheitsreform durchgeführt wird...«, »Das ist eine wenig überzeugende Einschätzung der Dinge...« – und fragte sich, was da vorging. Weshalb sollte Joan anläßlich einer Hausbesichtigung eine solche Diskussion führen? »Ich muß unser Telefongespräch jetzt leider beenden, meine Dame«, hörte sie plötzlich die Männerstimme. »Sie wissen offensichtlich nicht, wovon Sie reden, und ich habe jetzt Lust auf ein wenig Musik. Wie
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