French, Tana
abgestellt und war einfach losgegangen.
Ich war unten beim alten Kilmainham-Gefängnis, als mir die ersten großen stillen
Flocken entgegenwirbelten. Sobald es angefangen hatte, hörte es nicht mehr
auf. Der Schnee schmolz fast wieder, sobald er den Boden berührte, aber in
Dublin können Jahre vergehen, ohne dass auch nur ein Flöckchen fällt, und vor
dem St. James's Hospital war eine große Schar Studenten schier aus dem Häuschen
geraten: Sie machten eine Schneeballschlacht, schabten die weiße Pracht von
Autos, die vor Ampeln hielten, und suchten Deckung hinter unbeteiligten
Zuschauern, rotnasig und lachend, ohne sich um die entrüsteten Spießer zu
scheren, die grollend und unsicher auf dem Heimweg von der Arbeit waren.
Später gerieten Pärchen in romantische Stimmung, schoben sich gegenseitig die
Hände in die Taschen, schmiegten sich aneinander und legten den Kopf in den
Nacken, um die tanzenden Flocken zu betrachten. Noch später waren die
Betrunkenen auf dem Heimweg aus den Pubs extra-doppelt-vorsichtig.
Irgendwann
tief in der Nacht landete ich schließlich oben am Faithful Place. Alle Lichter
waren aus, nur ein einsamer Stern von Bethlehem strahlte in Sallie Hearnes
Wohnzimmerfenster. An der Stelle, wo ich damals auf Rosie gewartet hatte,
blieb ich im Dunkeln stehen, stopfte die Hände in die Taschen und beobachtete,
wie der Wind anmutig geschwungene Schneeflockenschauer durch die gelblichen
Lichtkegel der Straßenlampen trieb. Faithful Place sah anheimelnd und friedlich
aus wie eine Weihnachtskarte, lag im Winterschlaf und träumte von
Schlittenglöckchen und heißem Kakao. Auf der Straße war kein Laut zu hören, bis
auf das Flüstern des Schnees, der gegen Wände geweht wurde, und die fernen
Klänge von Kirchenglocken, die eine Viertelstunde anschlugen.
Im
Wohnzimmer von Nummer 3 flimmerte Licht auf, und die Vorhänge teilten sich:
Matt Daly im Pyjama, dunkel vor dem schwachen Schein einer Tischlampe. Er
stützte die Hände aufs Fensterbrett und sah lange zu, wie die Schneeflocken
aufs Pflaster fielen. Dann hoben und senkten sich seine Schultern mit einem
tiefen Seufzer, und er zog die Vorhänge wieder zu. Gleich darauf ging das Licht
aus.
Selbst als
er seinen Beobachtungsposten verlassen hatte, konnte ich mich nicht überwinden,
Faithful Place zu betreten. Ich stieg über die Mauer in den Garten von Nummer
16.
Meine Füße
knirschten auf Kies und gefrorenem Unkraut, das sich noch immer in der Erde
festkrallte, wo Kevin gestorben war. Drunten in Nummer 8 waren Shays Fenster
dunkel und leer. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, seine Vorhänge zu
schließen.
Die
Hintertür von Nummer 16 schwang auf, vor einem finsteren Rechteck, und
quietschte ruhelos, als der Wind sie bewegte. Ich stand in der Tür, sah
schwaches schneeblaues Licht die Treppe herabfallen und meinen Atem in der
eisigen Luft treiben. Wenn ich an Geister geglaubt hätte, wäre dieses Haus die
größte Enttäuschung überhaupt gewesen: Es hätte nur so von ihnen wimmeln
müssen, sie hätten in den Wänden stecken, die Luft verdichten, in jedem hohen
Winkel wehklagen und flattern müssen, aber ich hatte noch nie ein Haus
gesehen, das dermaßen leer war, so leer, dass es einem förmlich die Atemluft aussaugte.
Was auch immer ich hier suchte - Rocky, der berechenbare Tropf, hätte
wahrscheinlich vermutet, dass ich endgültig Abschied nehmen wollte oder etwas
ähnlich Schwachsinniges -, es war nicht da. Ein paar Flocken wirbelten über
meine Schulter, blieben sekundenlang auf den Dielenbrettern liegen und
verschwanden.
Ich erwog,
irgendetwas mitzunehmen oder irgendetwas zurückzulassen, einfach so, aber ich
hatte nichts dabei, das sich gelohnt hätte zurückzulassen, und es gab nichts,
was ich mitnehmen wollte. Ich hob eine leere Chipstüte aus dem Unkraut auf,
faltete sie zusammen und klemmte sie unter die geschlossene Tür. Dann stieg
ich wieder über die Mauer und spazierte weiter.
Ich war
sechzehn, als ich da oben im obersten Zimmer Rosie Daly zum ersten Mal
berührte. Es war ein Freitagabend im Sommer: Wir waren zu mehreren und hatten
zwei große Flaschen billigen Cider dabei, eine 20er-Packung SuperKing Lights
und eine Tüte Erdbeerbonbons - so jung waren wir. Zippy Hearne und Des Nolan
und Ger Brophy und ich hatten in den Schulferien öfter auf dem Bau gejobbt,
daher waren wir sonnengebräunt und muskulös und gut bei Kasse. Wir lachten lauter
und breiter, strotzten vor neugewonnener Männlichkeit und
Weitere Kostenlose Bücher