Frostkuss
Und warum?«
»Noch nicht. Aber er wird es erfahren, wenn du es mir nicht gibst. Und zwar jetzt .«
Ich öffnete die Plastiktüte und hielt sie ihr entgegen. Daphne starrte den Rosenanhänger an, der darin glitzerte. Dann biss sie sich auf die Lippe, sodass Lipgloss auf ihre Zähne geriet, und wandte den Blick ab.
»Schön«, murmelte sie. »Ich weiß sowieso nicht wirklich, warum ich es überhaupt genommen habe.«
Ich wusste es, weil Daphne vor meinem inneren Auge aufgeblitzt war, als ich den Anhänger berührt hatte. Kaum dass meine Finger über die silberne Rose geglitten waren, war das Bild der blonden Walküre in mir aufgestiegen. Ich hatte gesehen, wie Daphne an Carsons Schreibtisch saß und das Armband anstarrte, während sich ihre Finger um die Metallglieder schlossen, als wollte sie sie zerreißen.
Ich hatte auch die Gefühle des anderen Mädchens gespürt, so wie es immer geschah, wenn ich einen Gegenstand oder sogar eine andere Person berührte. Ich hatte Daphnes heiße, kochende Eifersucht gefühlt bei dem Gedanken, dass Carson auch nur darüber nachdachte, Leta um ein Date zu bitten. Und das warme, weiche, übersprudelnde Gefühl von Daphnes Schwärmerei für Carson, obwohl er ein Musikfreak war, während sie zur Gruppe der Beliebten gehörte. Ihre kalte, schmerzhafte Verzweiflung darüber, dass sie in jemanden verliebt war, den der Rest ihrer hochnäsigen Freunde nicht gutheißen würde.
Aber das erzählte ich Daphne nicht. Je weniger die Leute über meine Gabe wussten und über die Dinge, die ich sah und fühlte, desto besser.
Daphne riss das Armband aus ihrer Tasche. Carson Callahan mochte ja ein Musikfreak sein, aber er hatte auch Geld, also war das Bettelarmband ein schweres, teures Stück mit Dutzenden Anhängern daran, die bei jeder Bewegung klirrten. Daphnes Nägel kratzten über einen der Anhänger, ein kleines Herz, und wieder stiegen pinkfarbene Funken in die Luft wie Glühwürmchen.
Ich streckte erneut die Plastiktüte aus, und Daphne ließ das Armband hineinfallen. Ich schloss den Beutel und verknotete ihn, wobei ich sorgfältig darauf achtete, das Schmuckstück nicht zu berühren. Ich wollte keine weiteren Einblicke in die Psyche von Daphne Cruz. Schon beim ersten Mal hatte ich fast Mitleid mit ihr empfunden.
Aber jedes Mitgefühl, das ich vielleicht für Daphne gehegt hatte, verschwand, als die Walküre mich mit einem kalten, hochnäsigen Blick bedachte, den mir vor ihr schon so viele andere bösartige Tussen geschenkt hatten.
»Wenn du irgendwem davon erzählst, Gwen Frost, werde ich dich mit deinem scheußlichen purpurnen Kapuzenshirt erwürgen. Verstanden?«
»Sicher«, erklärte ich freundlich. »Aber du solltest dich vor der nächsten Stunde vielleicht noch etwas frisch machen. Dein Lipgloss ist verschmiert.«
Die Walküre verengte die Augen zu Schlitzen, aber ich ignorierte ihre giftigen Blicke, entriegelte die Toilettentür und ging.
Ich trat aus der Mädchentoilette auf den Flur. Irgendwo tiefer im Gebäude ertönte die Pausenglocke und warnte mich, dass ich nur noch fünf Minuten bis zur nächsten Stunde hatte. Also reihte ich mich in den Strom der Schüler ein, um in den Westflügel des Geschichtsgebäudes zu kommen.
Von außen sah die Mythos Academy aus wie ein Elitegymnasium, obwohl sie in Cypress Mountain lag, knapp außerhalb von Asheville im westlichen Hochland von North Carolina. Alles an der Akademie roch nach Geld, Macht und Snobismus. Von den efeubewachsenen Steingebäuden über die perfekt gepflegten Grasvierecke bis zum Speisesaal, der eher an ein Fünf-Sterne-Restaurant erinnerte als an eine Schulcafeteria. Ja, von außen gesehen wirkte die Akademie exakt wie der Ort, an den reiche Leute ihre verzogenen Treuhandfond-Kinder schicken würden, um sie auf Yale, Harvard, Duke oder ein anderes, angemessen teures College vorzubereiten.
Von innen sah es ganz anders aus.
Auf den ersten Blick wirkte alles normal, wenn auch ein wenig spießig und altmodisch. Ihr wisst schon, polierte Rüstungen in den Gängen, von denen jede eine scharfe, spitze Waffe umklammerte. Steinreliefs und teure Ölgemälde von mythologischen Schlachten an den Wänden. Weiße Marmorstatuen von Göttern und Göttinnen in den Ecken, die sich mit vorgehaltener Hand gegenseitig ansahen, als würden sie über die Personen lästern, die an ihnen vorbeikamen.
Dann waren da noch die Schüler. Sie waren zwischen sechzehn und einundzwanzig, Schüler im ersten bis zum sechsten Jahr, in allen
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