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Fünf Kopeken

Fünf Kopeken

Titel: Fünf Kopeken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Stricker
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ihr Kopf in den ersten Jahren unverhältnismäßig groß gewirkt haben.
    Medizinisch ist das äußerst fragwürdig. Aber mit der Wissenschaft hielt es mein Großvater wie mit Schokolade: Mal war sie das einzig Wahre, Energiespender, Blutdrucksenker, Antidepressivum, Soldatenfutter. Dann überfraß er sich maßlos und konnte sie monatelang nicht mehr riechen. Alle Einwände befreundeter Ärzte, am Ende sogar meiner Mutter selbst, brachten ihn nur dazu, seine Geschichte umso vehementer zu verteidigen. »Schlüsselfertig geliefert«, rief er und tätschelte ihren Hinterkopf. Von meiner Großmutter war keine Klärung zu erwarten. Die hatte sich das mit der Wahrheit gleich nach der Hochzeit abgewöhnt, zusammen mit Schach. In beidem war mein Großvater einfach unschlagbar.
    Er nahm der Schwester also das Bündel aus der Hand, drehte es hin und her, als suche er nach dem Etikett, und fand es schließlich tatsächlich. Mit gestrecktem Zeigefinger stach er in das Grübchen im Kinn, sein Grübchen, eine dunkle Mulde, die sich tief ins Fleisch bohrte. Bei ihm. Bei meiner Mutter war es noch eher ein Pünktchen, als habe jemand mit der Bleistiftspitze in die Haut gepiekst, aber zweifelsohne seine Signatur. Er drückte meiner Großmutter einen Kuss auf die Stirn und das Kind zurück in ihre Arme, sagte »Gut gemacht, Hilde, kannst stolz auf dich sein« und lief hinaus auf den Gang, um jemanden zum Anstoßen zu suchen.
    Die Einzige, die sich beim besten Willen nicht an das Aussehen meiner Mutter gewöhnen konnte, war meine Großmutter. Natürlich liebte auch sie meine Mutter. Alles andere hätte sie sich nie erlaubt. Aber jedes Mal, wenn sie sie ansah, spürte sie ein Ziehen, ungefähr drei Fingerbreit unter der Brust. Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, strich sie darüber, wie über eine kitzelige Stelle, von der man hofft, sie würde irgendwann taub werden. Aber so lange sie auch rieb, das Ziehen wollte einfach nicht verschwinden.
    »Nicht doch, kucken Sie sich doch nur mal diesen bezaubernden, kleinen Mund an! Und der wache Blick«, rief die Schwester, als sie die rotgeweinten Augen meiner Großmutter sah. »Sie reden sich da was ein. Ich sag Ihnen, die wird so manchem Jungen den Kopf verdrehen.« Sie stemmte die Arme in die Hüften und schüttelte lachend den Kopf, aber meine Großmutter konnte sehen, dass sie log.
    »Ich hatte einfach gehofft, dass sie mir ähnlich sieht«, stammelte sie unter Tränen.
    »Tut sie doch!«, rief die Schwester, »ganz die Mama!« Und Letzteres glaubte meine Großmutter natürlich und heulte sich so richtig ein.
    Vielleicht wäre es ihr leichter gefallen, wenn sie noch einen Versuch gehabt hätte, eine zweite Chance, ihr Erbe in eine etwas ansehnlichere Form zu gießen. Aber als sie »wie durch ein Wunder!« doch noch schwanger wurde, war sie schon 36. Sie wusste, dass meine Mutter alles war, was sie an Familie zu erwarten hatte. Mal abgesehen von der meines Großvaters. Aber da war keine fast besser.
    Meine Großmutter hatte für die »Mischpoke« ihres Mannes nur Verachtung übrig, auch wenn ihre gute Erziehung sie zwang, das hinter vereinzelten, von einem Seufzer begleiteten Verweisen auf die Großstadt, in der man unter Kultur noch etwas anderes verstünde als die jährliche Weihnachtsfeier des Turnvereins, zu verstecken. Dabei spreizte sie den kleinen Finger von der Tasse und ließ hinter flatternden Lidern die Augen rollen, bis mein Großvater vor lauter Glück ihre Hand unterm Tisch ergriff. Er selbst hasste seine Familie noch mehr, wenn auch mit weniger Grazie, und bei ihm hieß sie »Bagaasch«, was in Wahrheit gar nicht Pfälzisch, sondern Französisch war, wie meine Großmutter ihm erklärte. Wofür er sie gleich noch mehr liebte. Für ihn war die junge Frau, die eines Tages in den Kurzwarenladen seines Vaters, meines Urgroßvaters, gekommen war und die ihr angebotenen fleischfarbenen Schlüpfer mit ausgesuchter Höflichkeit, aber unmissverständlichem Ekel zurückgeschoben hatte, nicht nur der Inbegriff einer Dame; er spürte auch, dass sie in ihm jenen Funken Weltgewandtheit erkannte, den man in seiner Heimat partout übersah, ganz egal wie viele Seidenschals er sich über die Schulter warf.
    Mein Großvater kam aus einem winzigen Nest, dessen Namen nur mit vor Verachtung näselnder Stimme ausgesprochen werden durfte. Der Einzige im Dorf, bei dem außer der Bibel und »Mein Kampf« noch ein drittes Buch im Regal einstaubte, war sein Bruder Helmut (der Helm), der wenigstens

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