Fünf Kopeken
nickte höflich, kostete den unsichtbaren Kuchen, den ihr ein Mädchen anbot, und tat so, als würde sie der Kindergärtnerin zuhören, aber sie hatte ihre Zweifel, dass sich hier irgendetwas aufbauen ließ, außer ein paar Vorurteilen über ihren Berufsstand. Dann hustete ein Kind. Ein zweites nieste in die Buntstiftkiste. Und damit hatte es sich. Am nächsten Morgen setzte sie eine Annonce in die Zeitung und besorgte meinem Großvater eine Sekretärin, sodass sie zu Hause bleiben und meine Mutter keimfrei halten konnte.
Nach dem Tod seines Vaters hatte der den Kurzwarenladen übernommen, der jetzt »Butieke« hieß, und das Nachbarhaus gekauft, das seit 38 leer stand, »zu einem Spottpreis«, wie er verkündete, von einem Ehrgeiz getrieben, der sich keinen Blick zurück leisten wollte. Das ehemalige Wohnzimmer wurde zum Warenlager umfunktioniert. Das Nähgarn und die Stricknadeln verschwanden. Stattdessen zogen lange, wuchtige Kleider ins Schaufenster. Vor dem Verkauf ließ er die Stücke für einen Katalog fotografieren, mit dem man die aktuelle »Mode Schneider«-Kollektion auch per Post bestellen konnte. Für jeden neuen Kunden musste meine Großmutter ein Fähnchen in die Landkarte pieksen, die hinter dem Schreibtisch meines Großvaters hing. Sie suchte die Ware aus, machte ihm die Bücher, ging ans Telefon, gab ein paar Mal sogar das Mannequin. Bis mein Großvater vor lauter Aufbruchseuphorie Anfang der 90er beschloss, der Umzug in die Hauptstadt sei noch nicht genug, im neuen Deutschland brauche es auch ein neues Logo, waren es ihre Beine, die in geschlitztem Rock auf der unteren Kurve des »S« balancierten, das sowohl auf der Titelseite als auch über der Ladentür prangte. Sie war seine »rechte Hand«, wie er Lieferanten, die zu Besuch kamen, erzählte. Dabei ließ er die Finger in seinen Hemdsärmel rutschen und schob den Herren stattdessen den Arm meiner Großmutter zum Handschlag hin, was die die ersten paar Mal noch lustig, dann etwas peinlich, und schließlich, als sie mit Schrecken feststellte, dass sie Gefahr lief, ihre Liebe durch eine eigene Meinung zu besudeln, wieder lustig fand.
War sie am Anfang noch die Überlegene in der Beziehung, machte sie sich schon nach wenigen Monaten daran, sich so weit wie möglich in meinem Großvater aufzulösen. Fragen Sie meinen Mann. Frag den Papa. Später: Frag den Opa, »do kenn ich mich ned aus.« Sogar ihre Sprache driftete immer mehr ins Pfälzische ab. Von eigenen Interessen oder Überzeugungen hielt sie sich fern. Das Einzige, was sie für sich selbst beanspruchte, war die Kränkung, wenn ihr Mann ihre Selbstaufopferung nicht genug würdigte.
Mein Großvater war so verliebt, dass er die Veränderung zuerst gar nicht bemerkte. Und als er es schließlich doch tat, dachte wohl auch er, das müsse so sein. So sei das eben: Ehe. Nur manchmal, wenn ihn meine Großmutter am Ende eines 48-Stunden-Tages bat, noch mal eben schnell ihr Haushaltsbuch durchzusehen, »nicht, dass ich mich verrechnet hab«, rief er »Hilde, der Kopf ist nicht nur da, dass du einen Platz für die Dauerwellen hast. Selbst ist die Frau!«, bis selbige, erschrocken von der Schärfe seiner Stimme, so zu heulen begann, dass die Zahlenreihen in ihren Händen verliefen.
Der Feminist in der Familie war er. In erster Linie wegen der Lacher, die er erntete, wenn er das sagte. In zweiter war ihm die verschwitzte, nach Leberwurstebrot und abgestandenem Bier stinkende Männlichkeit seiner Kindheit schlichtweg zuwider. Es gefiel ihm, eine Frau an seiner Seite zu haben. Erst als meine Großmutter das Geschäft verließ, bemerkte sie, dass ob nun »eine« oder »seine« dabei keine besonders große Rolle spielte. Und vergaß es vorsorglich gleich wieder.
Schon nach einer Woche hatte er Ersatz gefunden, und als er sah, wie schnell er die Neue angelernt hatte, stellte er gleich noch eine zweite ein. Am Ende kommandierte er ein ganzes Heer von Fräuleins, die man damals noch so nennen durfte. Junge Mädchen mit viel zu vielen Zähnen und gemeißelten Wangenknochen, über denen die Gesichter spannten wie zu enge Kissenbezüge, während sie in den Hörer lachten, Bestellungen aufnahmen oder zum Diktat stöckelten. In zwei Reihen saßen sie rechts und links von seinem Büro und beugten die Köpfe über ihre Schreibmaschinen, während mein Großvater den Gang entlang marschierte und Anweisungen verteilte. Wenn er eine kleine Aufheiterung brauchte, ließ er sie »zum Appell!« antreten, wie er mit
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