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Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer

Titel: Fuerchte nicht das tiefe blaue Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Genevieve Tucholke
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abmontiert worden, nur der pechschwarze Tunnel stand noch und wand sich in den Hügel hinein. Ich hatte mich nie mehr als zwanzig oder dreißig Meter weit hineingetraut.
    Es hatte mich schon immer gewundert, dass nie irgendwelche überfürsorglichen Eltern dafür gesorgt hatten, dass der Eingang zugemauert wurde. Aber vielleicht lag der Tunnel zu weit von der Stadt entfernt, weshalb niemand sich Sorgen machte, dass irgendwelche Jugendlichen sich darin verirren und sterben könnten. Oder sich ein Bein brechen. Oder kiffen. Oder einen armen, unbeliebten Streber verprügeln, was sicher eine hitzige Anti-Tunnel-Debatte ausgelöst hätte.
    Möglicherweise hatte das mangelnde Interesse für den Tunnel auch etwas mit Blue Hoffman und den Gerüchten über ihn zu tun. Wir blieben vor dem Eingang stehen und starrten in die dunkle Tiefe, als würden wir einem alten Feind entgegenstarren.
    »Niemand weiß, wie lang dieses Ding wirklich ist«, sagte Luke. »Ich schlage vor, wir Männer lassen das Einkaufen ausfallen und finden es heraus. Was sagst du dazu, River? Wir machen es wie in der guten alten Zeit – die Frauen kümmern sich ums Abendessen und wir gehen auf Entdeckungsreise.«
    Sunshine stöhnte. »Klar, nur weil ich ein Mädchen bin, traue ich mich natürlich nicht in den Tunnel. Zur Hölle mit dir, Luke.«
    »Es heißt, dass ein Verrückter darin lebt …« Ich drehte mich zu River um, stemmte die Hände in die Hüften und wiegte mich leicht hin und her, sodass Freddies Rock anmutig um meine Waden schwang. Aber im nächsten Augenblick fiel mir auf, dass das etwas war, was Sunshine tun würde, und ich ließ es wieder.
    »Was du nicht sagst.« River lächelte und in seinen braunen Augen lag ein amüsierter, aber zugleich auch neugieriger Ausdruck.
    »Das Gerücht gibt es schon, seit wir Kinder waren, vielleicht auch schon länger«, erzählte ich. »Der Verrückte heißt angeblich Blue Hoffman und war im Krieg, wo er so viele Menschen getötet hat, dass er darüber den Verstand verlor. Kurz nach seiner Rückkehr nach Hause, begannen Kinder zu verschwinden, doch als die Polizei schließlich vor seiner Tür stand, stellte sich heraus, dass er selbst nicht mehr aufzufinden war. Die vermissten Kinder sind nie gefunden worden. Es heißt, dass Blue tief im Inneren des Tunnels lebt und die Kinder dort als Sklaven hält. Sie sehen niemals das Tageslicht und orientieren sich in der Dunkelheit wie Fledermäuse, weil sie praktisch blind geworden sind. Und sie ernähren sich von rohem Fleisch und sind so verrückt wie der Teufel.«
    Luke schüttelte staunend den Kopf. »Dass du dich überhaupt noch so gut an die Geschichte erinnern kannst, Violet. Ich hab schon im Kindergarten aufgehört, daran zu glauben.«
    Ich zuckte mit den Achseln und weigerte mich, mir blöd vorzukommen. »Das ist Echos ureigenste Stadtlegende. Es geht nicht darum, ob man daran glaubt oder nicht. Die Geschichte sollte einfach weitererzählt und am Leben erhalten werden.«
    Auch wenn Luke behauptete, nicht daran zu glauben, wusste ich, dass der Tunnel ihm Angst machte. Es war so dunkel in seinem Inneren, dass man selbst mit Taschenlampe kaum die Hand vor Augen sah. Und die Vorstellung, dass einem da drin ein paar bedauernswerte, vermisste Kinder mit schrumpelig feuchter weißer Haut und halb blinden milchig-weißen Augen auflauerten, während man durch die Finsternis stolperte, und nur auf den richtigen Moment warteten, um mit klammen Fingern nach einem zu greifen und einem ihre spitzen Fledermauszähne in den Hals zu schlagen, reichte, um jeden davon abzuhalten, einen Blick hineinzuwerfen – selbst meinen Bruder.
    Das war nun schon der fünfte Sommer, den wir gemeinsam mit Sunshine verbrachten, seit sie hergezogen war, und auf dem Weg in die Stadt waren wir bestimmt schon hundertmal am Tunnel vorbeigekommen, aber keiner von uns dreien hatte sich jemals weiter als ein paar Meter hineingewagt. Selbst letztes Jahr, als Sunshine mich zu erpressen versuchte, indem sie drohte, vor meinen Augen mit Luke herumzumachen, wenn ich nicht bis zum Ende des Tunnels gehen würde, hatte ich mich geweigert. Und das, obwohl ich mich fast übergeben musste, als sie und Luke daraufhin sehr ausgiebig und geräuschvoll herumknutschten.
    Die beiden wussten, dass ich noch so unberührt und ungeküsst war wie eine Nonne, und gingen offenbar davon aus, dass ich gern etwas daran geändert hätte. Viel schlimmer war, dass sie mit ihrem Kuss von einem Moment auf den anderen alles aus dem

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