Funkstille
gegeben hätte. Doch genauso ist die Funkstille. Man bleibt miteinander verbunden, gerade weil nicht alles gesagt wurde. Beschäftigen wir uns nicht eher mit Dingen, die nicht fertig sind?
Vieles bleibt daher unerzählt und, wie die Thematik selbst, unvollständig. Es gibt Lücken, vielleicht auch Irrwege. Dieses Buch ist kein Lebenskunst-Brevier mit wissenschaftlicher Unterfütterung. Es ist eher eine wache Beobachtung dessen, was um uns herum geschieht, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Wenn aber der eine oder andere Gedanke dem Leser hilft, die ambivalente Situation der Funkstille zu verstehen, dann ist viel erreicht.
Die Funkstille schafft einen Raum für Unbenanntes. Und vielleicht ist gerade das, was ich nicht geschrieben habe, dasjenige, was die Funkstille beschreibt. Dieses »zwischen den Zeilen«-Stehende schafft Raum – für Ihre Gedanken, Erfahrungen und Geschichten. Falls Sie selbst die Funkstille aus mittelbarer oder unmittelbarer Erfahrung kennen, können Sie Ihre Geschichte in Gedanken weiterschreiben, und vielleicht regen die mir vertraut gewordenen Protagonisten und die Einschätzungen der Fachleute Sie an, das Phänomen der Funkstille weiter auszuleuchten.
Unser Wissen über den anderen ist beschränkt. Hinter dem Augenschein liegt eine Wahrheit, die wir nicht fassen können, auch nicht mithilfe wissenschaftlicher Erklärungen und der sogenannten Vernunft. Doch dies zu erkennen kann schon eine Hilfe dabei sein, souveräner mit dem Unerklärlichen umzugehen. Wo es in Beziehungen zu anderen wehtut, neigen wir dazu auszuweichen. Dann treffen wir einander genau dort nicht, wo wir uns eigentlich suchen. Die Funkstille lässt eine Lücke entstehen. Sie schafft eine Distanz, die manchmal nötig sein mag, um klarer zu sehen. Man kann sich nicht anschauen, wenn man sich zu nah ist. Die Funkstille war dann nur das Drücken einer Pausentaste und kein Schlussstrich. Und: Was könnte aufregender sein, als ein unterbrochenes Leben mit all seinen Versprechungen wieder aufzunehmen?
Auch wenn die Funkstille doch einen Schlussstrich bedeutet, müssen wir das Erlebte nicht bereuen. Enttäuschungen lassen uns erkennen, was wir uns erhofft haben – öffnen uns die Augen. Der Schmerz ist der Stachel, der uns immer aufs Neue zum Nachdenken über das gesamte Leben nötigt. Und was ein Mensch in uns geweckt hat, das gehört zu uns, das müssen wir nicht verlorengeben, auch wenn der Mensch, der diese Seiten – gute und böse – aus uns herausgeliebt hat, gegangen ist.
Überblick über die Personen in den vorgestellten Geschichten
Lisa-Maria W. s ältester Sohn Michael (46 Jahre) hat vor 20 Jahren den Kontakt zu seiner Mutter (72 Jahre) abgebrochen und hält die Funkstille eisern aufrecht. Zu seinen beiden Geschwistern Christian und Christine sowie zu seiner Nichte Anna hat Michael jedoch Kontakt. Diese haben allerdings ein gutes Verhältnis zur Mutter und Oma.
Marina M. ist seit 5 Jahren ohne jeglichen Kontakt zu ihrem Sohn. Rico (18 Jahre), der nach einem Autounfall schwerbehindert ist, brach den Kontakt nach einer problematischen Pubertät einfach ab, ohne Erklärung, ohne Abschied.
Claudia (60 Jahre) beschloss vor fast 20 Jahren, ihrer gesamten Familie den Rücken zu kehren und ignoriert jeden Kontaktversuch ihrer Schwester Ute (55 Jahre), die unter der Trennung nach zwei Jahrzehnten immer noch so sehr leidet wie zu Beginn des Kontaktabbruchs. Vor allem Utes älteste Tochter Annika hatte bis zum Kontaktabbruch eine innige Beziehung zu ihrer Tante.
Stephan und Marie sind ein junges Paar, führen eine augenscheinlich harmonische Beziehung. Doch Marie verschwindet plötzlich von einem Tag auf den anderen, bricht mit Stephan und der Beziehung. Stephan hat weder eine Nachricht von ihr noch eine Antwort auf seine Frage »Warum?«.
Vicky und Kyrill führen seit drei Jahren eine Fernbeziehung. Kyrill, Kellner, lebt in Griechenland, während Vicky in Deutschland im PR -Bereich arbeitet. Warum Kyrill plötzlich nicht mehr erreichbar ist, sich einfach nicht mehr meldet, versteht Vicky nicht. Der Funkstille ging weder ein Streit noch eine Meinungsverschiedenheit voraus.
Jan (43 Jahre) und seine Mutter Isabella M. (60 Jahre) haben ein sehr inniges Verhältnis. Die Mutter ist nach der Scheidung vom Vater die wichtigste Bezugsperson für ihren Sohn. Doch Jan wendet sich plötzlich in schroffer und unversöhnlicher Weise von ihr ab und verweigert jede Aussprache. Jeglicher Kontaktversuch seiner Mutter scheitert.
Maja
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