Franzosenliebchen
1
Freitag, 26. Januar
1923
Die Glocken der nahe
gelegenen Kreuzkirche schlugen zehn, als Agnes Treppmann die
Haustür öffnete, ihren Schal fester um den
hochgeschlagenen Kragen ihres Mantels zog und auf die Straße
trat. Kaum hatte die junge Frau den Schutz des Hauseinganges
verlassen, packte sie der eiskalte Wind mit aller Kraft. Sie wandte
sich Richtung Bahnhof. Ihr blieb eine knappe Viertelstunde, wollte
sie noch den letzten Zug erreichen, der ihr den einstündigen
Fußmarsch durch die Dunkelheit zurück nach Hause
ersparte.
Es war heute deutlich
später geworden als üblich. Die letzte Straßenbahn
war vor einer Stunde gefahren. Ihre Herrschaft, der Kaufmann
Schafenbrinck und seine Frau, hatten zu einem schon lang geplanten
Abendessen gebeten, an dem neben dem Oberbürgermeister, Dr.
Sporleder, und dem Kommandeur der Schutzpolizei, Polizeiinspektor
Reifenrath, fünf weitere Honoratioren der Stadt und des
örtlichen Industrieverbandes teilgenommen hatten. Obwohl
politische Fragen im Hause Schafenbrinck eigentlich bei Tische
nicht diskutiert wurden, war es heute anders gewesen. An diesem
Abend gab es nur ein Gesprächsthema: die schon mehr als zehn
Tage dauernde Besetzung des Herner Stadtgebietes durch die
Franzosen.
Immer wenn Agnes
Treppmann die Speisen servierte, schnappte sie etwas von dem auf,
was im Saal gesprochen wurde. Anscheinend waren die hohen Herren,
die Hühnchen mit Reis verzehrten, mehr als besorgt über
die Anwesenheit ausländischer Soldaten und wussten nicht, wie
sie sich zukünftig verhalten sollten. Einige plädierten
dafür, den Franzosen keinen Anlass für ein hartes
Vorgehen zu geben, die anderen sprachen sich für eine
Ausweitung des passiven Widerstandes aus. Einmütig
begrüßten jedoch alle den Erlass des
Reichsinnenministers, der den deutschen Behörden jede
Kooperation mit der französischen Besatzungsmacht verbot, wohl
wissend, dass Konflikte damit unausbleiblich waren.
Agnes Treppmann war
jetzt einundzwanzig Jahre alt und stand seit zwei Jahren als
Hausmädchen in den Diensten der Schafenbrincks. Sie war mehr
als zufrieden mit ihrer Stelle. Das Ehepaar Schafenbrinck war
kinderlos geblieben, was die gnädige Frau immer wieder mit
einem tiefen Seufzer bedauerte. Es gab im Haushalt noch eine
ältere Köchin, Marianne, und den Hausdiener Erwin, der
bei Bedarf die meisten der erforderlichen Reparaturen auf dem
Anwesen ausführte und auch den Kraftwagen der Familie wartete.
Agnes reinigte vormittags das Haus, half anschließend
Marianne beim Einkaufen und servierte später das Mittagessen.
Da Abraham Schafenbrincks Kaufhaus nur wenige hundert Meter von dem
Wohnhaus der Familie entfernt lag, pflegte die Herrschaft immer
gemeinsam zu speisen. Danach folgten der Abwasch und manchmal
kleinere Botengänge. Es gab Mädchen in ihrer Siedlung,
die hatten es schlechter getroffen. Eine der größten
Vorteile ihrer Stellung aber war, dass ihr Arbeitgeber sie seit
Beginn der Inflation vor einigen Wochen mit Gutscheinen bezahlte,
die sie in seinem Kaufhaus einlösen konnte. So blieben ihr die
negativen Folgen der Geldentwertung weitgehend erspart und sie
konnte ihre eigene Familie besser unterstützen, als wenn sie
Bargeld mit nach Hause brachte, welches schon wenige Tage
später nur noch die Hälfte wert war.
Atemlos erreichte
Agnes den Herner Bahnhof, vor dem ein Trupp Franzosen Wache hielt.
Die jungen Soldaten machten in holprigem Deutsch anzügliche
Bemerkungen, als sie an ihnen vorbeieilte. Sie lächelte
wissend. Die Jungen in ihrer Nachbarschaft waren auch nicht anders.
Und im Übrigen konnten doch die einfachen Soldaten nichts
dafür, dass sie jetzt in Herne und nicht in Marseille ihren
Dienst schieben mussten. Sie befolgten Befehle, mehr nicht. Was
hatten denn im Krieg die deutschen Soldaten in Frankreich
angerichtet?
Hastig löste sie
ihre Fahrkarte, lief zum Bahnsteigaufgang, schaute sich um, raffte
entschlossen ihren Röcke, stürmte dann, zwei Stufen auf
einmal nehmend, die Treppe hinauf und erreichte im letzten Moment
den Zug, der abfahrbereit wartete. Kaum war sie in den Waggon
gesprungen, schrillte der Pfiff des Aufsichtsbeamten, und
schnaufend setzte sich die Dampflok in Bewegung. Erleichtert
ließ sie sich auf die Holzbank fallen. Geschafft!
Der Zug brauchte nur
wenige Minuten, um den Bahnhof in Börnig zu erreichen.
Eigentlich war es mehr ein Haltepunkt als ein Bahnhof. Zwar gab es
einen kleinen Schuppen, der als Empfangsgebäude deklariert
worden war, aber der aus Schotter
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