Galgeninsel
der Schlag auf den Kopf hat die rechte vordere Schädeldecke zertrümmert. Kandras war mit ziemlicher Sicherheit bewusstlos. Der Schlag allein allerdings hätte nicht zum Tod geführt. Derjenige, der zugeschlagen hat, muss in etwa gleich groß gewesen sein und benutzte dazu etwas rundes, ein festes Rundholz vielleicht, etwa fünf Zentimeter Durchmesser mit einer sehr glatten Oberfläche.«
Lydia blätterte im Obduktionsbericht und ergänzte: »Der Schlag ist von schräg hinten geführt worden, zur rechten Schädelseite. Also ein Rechtshänder. Mich wundert, dass er am ganzen Körper keine weiteren Verletzungen hat. Keinerlei Sekundärverletzungen. Das ist doch nicht normal, oder? Wieso finden sich keine Hämatome, keine Schleif- oder Abriebspuren an der Haut? Die Klamotten waren auch intakt und ohne Risse oder dergleichen. Keine ausgerissenen Haare. Also ich finde das eigenartig …. Könnte aber auch bedeuten, dass der oder die Täter den Körper nicht herumschleifen mussten. Ihn nicht für einen Transport in einen Kofferraum gepackt haben. Ein Schlag auf den Kopf – und hops, ab ins Wasser.«
Schielin sah sie stumm an. »Also direkt am Wasser. Oder der Täter ist äußerst zielstrebig vorgegangen und hat das alles berücksichtigt, war vorbereitet.«
»Hältst du das für eine mögliche Variante?«, fragte Lydia.
»Nein. Möglich zwar schon, aber ich denke das ganze ist direkt am Ufer passiert.«
»Oder auf dem Wasser«, ergänzte sie.
»Ein Boot, oder ein Bootssteg, eine Ufermauer.« Er überlegte. »Das ist aber kaum möglich. Das Wasser ist noch derart niedrig und die Stellen, die in Betracht kämen, liegen doch so hoch. Nein, da wäre er beim Hineinschmeißen am Grund aufgeschlagen, und dann wären Schürfungen und Hämatome zurückgeblieben. Bootssteg wäre zwar möglich, aber ich tendiere im Moment eher zu Boot.«
»Also da, wo man ihn rausgezogen hat … auf der Ostseite der Insel … legt nahe, dass es irgendwo in der Bregenzer Bucht geschehen sein muss. Es ist doch eher unwahrscheinlich, dass der Körper von der Schachener Seite her um die ganze Insel getrieben ist. Da wäre er vorher an der Hintern Insel angelandet.«
Schielin stimmte ihr zu. »Ja. Eher die Ostseite. Da sind auch weniger Boote unterwegs. Von der Schachener Seite her wäre er sicher von einem Boot entdeckt worden.« Nach einer kurzen Pause, in der er überlegte, meinte er: »Wir sollten das Ufer von der Seebrücke aus bis zur Ladestraße hin absuchen, auch wenn das Wetter inzwischen alles verwindet und verregnet hat. Was mir zu denken gibt, ist die lange Zeit, die er im Wasser war. Drei bis fünf Tage haben die Münchner gesagt. Da könnte der Tatzeitpunkt zwischen Freitag und Sonntag letzter Woche gelegen haben, oder?«
Lydia nickte und fragte: »Wann hat man ihn zum letzten Mal gesichert gesehen?«
»Das war Dienstagabend letzter Woche. Ich habe mit seiner Sekretärin telefoniert. Sie hat sich da von ihm verabschiedet. Danach gab es, jedenfalls nach unserem aktuellen Kenntnisstand, niemanden mehr, mit dem er Kontakt hatte. Nichts. Und das Auto ist ja auch verschwunden. Das kann sich ja nicht in Luft auflösen. Wer immer das beiseite geschafft hat, er hat es gründlich erledigt.«
Lydia überlegte. »Und die Sekretärin hat ihn nicht vermisst?«
Schielin hob fragend die Hände.
Sie winkte ab und wechselte das Thema. »Das ist schon eine lange Zeit, von Dienstagabend bis zum vermutlichen Tatzeitpunkt. Vor allem haben wir echte Probleme mit Alibis. Bei so einem langen Tatzeitraum lässt sich kaum jemand festnageln.« Sie sah ihn ernst an. »Was machen wir mit der Anna Kandras. Da haben wir heute noch einen Termin, oder?«
Schielin schüttelte den Kopf. »Nein. Das lassen wir sein. Ruf sie bitte an und sage den Termin ab. Wir haben noch zu wenige Informationen, um die wirklich richtigen Fragen zu stellen. Ich schlage vor, du kümmerst dich um diese Privatbank samt Direktor und ich leuchte Kandras mal näher aus.«
Als sie wortlos zum Hörer griff, um bei Anna Kandras anzurufen, unterbrach sie Schielin. »Warte mal. Was hältst du eigentlich von dieser Anna Kandras?«
»Schöne Frau«, antwortete Lydia prompt, »macht auf mich einen sehr kontrollierten Eindruck, aber ich muss dir sagen, trotz allem … also ich finde sie sympathisch.«
Ein überraschtes »Mhm« war alles, was sie zur Antwort bekam. Dann führten beide ihre Telefonate. Schielin verabredete sich mit Putzfrau und Sekretärin, um in Kandras Wohnung zu gelangen.
Weitere Kostenlose Bücher