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Garou

Garou

Titel: Garou Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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Heuschuppen und guckten in die Nacht hinaus. Die Hofgebäude schmiegten sich schutzsuchend an das Schloss. Der Apfelgarten schwieg. Es roch nach Rauch und neuem Schnee. Der Schatten einer Eule glitt lautlos über die Weide Richtung Wald.
    Fühlten sie sich hier wohl? Cloud vielleicht. Cloud war das wolligste Schaf der Herde, und sie fühlte sich überall wohl. Wollig und wohlig hingen zusammen. Auch Sir Ritchfield schien es zu gefallen, weil es hier viele Gesprächspartner gab, die nicht wegliefen: die alte Eiche, den Schrank, den Bach, manchmal den ungeschorenen Fremden, und wenn er Glück hatte die eine oder andere Ziege. Bei den Ziegen waren Ritchfields laute und einseitige Unterhaltungen sogar beliebt, und oft fand sich ein ganzer Trupp am Zaun ein, kicherte und hopste.
    Die anderen waren sich nicht so sicher. Etwas stimmte nicht. Im Apfelgarten hing nur noch ein einziger vergessener Apfel, rot wie ein Tropfen Blut. Man konnte ihn sehen, aber nicht riechen. Vielleicht war es wieder an der Zeit, eine Karte zu fressen. Aber welche Karte?
    »Was sie wohl sagen wollte?«, fragte Miss Maple plötzlich.
    »Wer?«, fragte Maude.
    »Mama«, sagte Maple. »Bevor ihr Rebecca den Mund zugehalten hat.«
    Die Schafe wussten es nicht und schwiegen. Ein halber Mond hing über der Weide wie ein angefressener Haferkeks.
    »Rebecca ist richtig erschrocken«, sagte Miss Maple. »Als würde bald etwas passieren. Etwas Schreckliches.«
    »Was soll schon passieren?«, sagte Cloud und plusterte sich.
    »Was soll schon passieren?«, blökten die anderen Schafe. Es gab jeden Tag Kraftfutter im Trog und ein bisschen Vorlesen auf den Schäferwagenstufen. Wenn die Wasserstelle zugefroren war, hackte Rebecca das Eis mit einer Hacke auf. Wenn es zu sehr schneite, blieben sie im Heuschuppen. Wenn ihnen langweilig war, fraßen sie oder erzählten Geschichten. Und am Ende jeder Geschichte wartete ein duftender Heuhaufen.
    Die Schafe blickten hinaus auf den blauen Schnee und kamen sich kühn vor.
    In diesem Moment schnitt ein Ton durch die Stille, lang und dünn und fern und herzzerreißend.
    Eine Klage.
    Ein Heulen.
     

2
     
    Cloud flog.
    Nicht wie in ihren Träumen, schaukelnd und majestätisch wie ein Wolkenschaf, sondern eher wie ein Pusteblumensamen, hin und her, zick und zack, von launischen Winden getrieben. Quer über die Weide, über schmierigen Schnee und hart gefrorenes Gras, in einem weiten Satz über den Bach, vorbei an der alten Eiche - Spatzen stoben auf- den Hang hinauf.
    Tief unter ihr galoppierten wild ihre Beine. Ihre Ohren pochten. Ihr Herz flatterte im Wind. Schneller! Die anderen hatte sie längst hinter sich gelassen, aber nicht ihn. Er war dicht hinter ihr, ein Keuchen in ihrem Nacken, eine blitzende Ahnung im Augenwinkel.
    Der Wind blies Cloud auf einen schwankenden Wald zu.
    Zwischen dem Wald und der Weide war der Zaun.
    Er war immer da, aber heute hatte Cloud irgendwie nicht mit ihm gerechnet. Sie äugte panisch nach allen Seiten. Links am Zaun entlang in eine Ecke? Rechts am Zaun entlang in eine Ecke? Der Wind hatte andere Pläne.
    Ohne auch nur Luft zu holen, galoppierte Cloud in den Draht.
    Ein Klingen in ihren Ohren, ein dumpfer Schmerz am Hals. Der Zaun gab nach. Einer der Pfosten, zwischen denen die Drähte gespannt waren, fiel um. Der Himmel kippte weg.
    Doch im nächsten Moment war Cloud schon wieder auf den Beinen und drehte den Kopf. Ihr Verfolger keuchte den Hügel hinauf, nur einige Schafslängen entfernt. Aber der Zaun lag nun flach vor ihr, und mit einem Sprung war sie darüber. Mit einem Sprung am Waldrand. Mit einem Sprung im Wald.
    Mit einem Mal war das Sausen in ihren Ohren verschwunden. Cloud fröstelte. Sie fühlte sich, als hätte sie kein bisschen Wolle mehr auf der Haut. Ganz nackt. Ganz kalt. Ein kleiner Vogel landete auf einem Zweig hoch über ihr, und Schnee stäubte herab.
    Cloud schauderte und trabte vorsichtig weiter.
    Bald umschloss sie das Halbdunkel des Waldes wie ein Stall, und das Keuchen war verschwunden.
    Ein Knacken hier, ein Knacken dort, sonst Stille.
    Vielleicht war alles ja doch nur ein Traum.
     
    Die anderen Schafe beobachteten Clouds Flucht mit gemischten Gefühlen.
    Einerseits waren sie froh, dass der Tierarzt Cloud nicht erwischt hatte. Andererseits waren jetzt sie dran. Eines von ihnen. Dann noch eines. Und noch eines. Irgendwann alle. Der Tierarzt würde sie so festhalten, dass sie vor Schreck keine Luft mehr bekamen. Er würde ihren Hufen wehtun und ihren Ohren. Er

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