Gefaehrliche Versuchung
paar Monate des süßen Nichtstuns hatte er sich redlich verdient, ehe er sich wieder auf den Weg machte. Nur ein Mal wollte er keine Verantwortung tragen, keine Verpflichtungen haben und nicht Befehlen Folge leisten müssen. Die einzigen Dinge, für die er in der nächsten Zeit verantwortlich sein wollte, waren sein Skizzenblock, sein Winkelmesser und seine Stiefel. Sollte jemand anders ruhig die Welt in Ordnung bringen.
Er wusste nicht, wie lange er dort schon saß und über seine Zukunft nachdachte, als er etwas hörte – ein kurzes, hallendes Krachen. Sein erster Gedanke war: Ich kenne das Geräusch. Sein nächster Impuls war es loszurennen. Es dauerte jedoch noch ein halbes Dutzend Herzschläge, bis er beides miteinander verbunden hatte.
»Verdammter Mist«, stieß er unvermittelt hervor und sprang auf. Schmerz schoss ihm durch die Seite, und er presste einen Arm auf seinen Leib.
Selbstverständlich kannte er das Geräusch. Es war ein Schuss, der irgendwo im Haus gefallen war. Adrenalin strömte durch seine Adern, während er durch den Flur und zur Treppe rannte. Wie immer, wenn er im Einsatz war, schien die Zeit sich wie Karamell zu ziehen. Ihm fiel auf, wie die Sonne durch die Fenster schien und die Staubpartikel wie tanzende Glühwürmchen aussahen. Er konnte den schwachen Duft von Bienenwachs und Zitrone wahrnehmen. Seine Stiefel rutschten über den blank polierten Marmorfußboden. Er hörte Rufe und noch mehr Schritte.
Er hatte die erste Stufe der Treppe erreicht, als neue Geräusche erklangen. Berstendes Glas. Ein Schrei. Und dann, irgendwo draußen, das fürchterliche Geräusch eines dumpfen Aufpralls.
Oh verflucht. Ohne groß nachzudenken, wirbelte er herum und rannte zur Eingangstür.
Der Aufruhr schien im hinteren Teil des Hauses gewesen zu sein. Er jagte um das Haus herum und über den Rasen, als wären französische Scharfschützen ihm auf den Fersen. Als er um die Ecke bog, blickte er nach oben und dann nach unten. An der Hauswand hing ein weißer Fensterrahmen herunter, zerbrochen. Das Glas war zersplittert, und einzelne Scherben regneten noch immer zu Boden. Unterhalb des kaputten Fensters war der Buchsbaum zerdrückt, und zwei menschliche Körper hingen darüber wie Wäschestücke.
Harry rannte zu dem Mann, den er erkannte. »Diccan? Diccan!«
Diccan hatte versucht, sich aufzurappeln. Beim Klang von Harrys Stimme ließ er sich zurücksinken und lag keuchend im Gebüsch. Ein Blick reichte, um festzustellen, dass der andere Mann tot war. Blutiger Schaum klebte auf seinen Lippen, seine matten Augen blickten starr ins Leere. Ein spitzer Ast ragte aus seiner Brust. Harry keuchte auf. Der Mann war kein Geringerer als der Chirurg selbst. Tot.
Doch das konnte warten. Harry fiel auf die Knie und schätzte mit geschultem Blick ab, wie schlimm sein Freund verletzt war. Kratzer, ein paar Beulen und ein seltsam abgeknickter Unterarm. Für einen Sturz aus dieser Höhe war Diccan glimpflich davongekommen.
»Wirst du es überleben, alter Freund?«, fragte Harry.
Diccan warf ihm ein schiefes Lächeln zu. »Ich fürchte, ja. Der Chirurg hat es dagegen hinter sich.«
Harry schüttelte den Kopf. »So ein Jammer.«
Er konnte hören, wie Leute durchs Haus rannten. Diccan hatte es offenbar auch gehört, denn plötzlich packte er Harry am Ärmel und wollte sich hochziehen. »Harry, ich glaube, Kate ist in Gefahr.«
Eine Sekunde lang erstarrte er. »Kate? Um Gottes willen, warum?«
»Es war etwas, das der Chirurg gesagt hat: ›Die Hure hat den Vers.‹ Minette ist nicht die Einzige, die Hure genannt wird. Jedenfalls nicht von einigen Leuten, die ich kenne.«
Harry hätte schwören können, dass er hier einen Moment aufgehört hatte zu atmen. »Sie ist in das alles verwickelt?«
»Ich glaube, ja.«
»Dann ist sie ganz sicher in Gefahr«, entgegnete Harry und konnte Kates selbstzufriedenes Lächeln nicht vergessen. »Falls sie eine Verräterin ist, werde ich sie mit meinen eigenen Händen töten.«
Kapitel 1
Drei Tage später
Wenn es etwas gab, das Kate Seatons wahre Leidenschaft zeigte, dann war es eine Hochzeit. Kate liebte Hochzeiten. Vor allem liebte sie es, wenn gute Freunde heirateten. Sie liebte die Blumen, die leidenschaftliche Orgelmusik und die Rührseligkeit, die so gut wie jeden dazu brachte, sein Taschentuch herauszuholen und wie eine weiße Flagge der Kapitulation zu schwenken. Vor allen Dingen liebte sie das Lächeln. Jeder sollte bei einer Hochzeit lächeln. Jeder sollte eine Hochzeit
Weitere Kostenlose Bücher