Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
geöffnet wurde, Sybille Bär ging hinein.
Obwohl er sich immer noch schwach fühlte, schlüpfte Rühl leise aus der Toilette, schloss die Tür wieder, nahm die Treppe, ging schnell und war nach ein paar Sekunden im Freien. Dort standen einige Schüler herum, die kaum Notiz von ihm nahmen.
Rühl lief zum Dorf und versteckte sich hinter einem Baum, bis ein Bus kam. Es schien aber niemand nach ihm zu suchen. Der Bus fuhr zum Bahnhof, dort nahm er den Zug. Zum Glück hatte er, wegen des Regens, seine Kapuzenjacke angezogen, in deren Innentasche sein Geld und sein Ausweis steckten.
In Mainz setzte sich Rühl in ein Café und aß ein Stück Kuchen, ohne zu wissen, weshalb. Er hatte keinen Hunger. Es war später Nachmittag, der Regen hatte wieder aufgehört. Am Bahnhof gab es mehrere Telefonzellen, dort suchte er in einem Telefonbuch die Adresse, die er brauchte. Zum ersten Mal seit Jahren nahm er sich ein Taxi. Das letzte Mal war nach dem Tod seines Vaters gewesen, vom Krankenhaus zum Bahnhof, irgendjemand, erinnerte er sich, war mit ihm gefahren, seine Mutter oder seine Schwester wahrscheinlich.
Das Haus des Direktors lag in Gonsenheim, einem Vorort, in dem viele Lehrer und mittlere Angestellte lebten. Als Rühl auf die Klingel drückte, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass niemand zu Hause sein könnte. Was dann? Was als Nächstes? Während er überlegte, klingelte er ein zweites Mal. Jetzt öffnete sich die Tür.
Rühl hätte im Nachhinein nicht sagen können, ob es die Frau des Direktors war oder der Direktor selbst, der ihn hereinbat. Er wusste auch nicht mehr genau, mit welchen Worten er die Störung entschuldigt und sein Anliegen geschildert hatte. Sicher machte er einen verstörten Eindruck, dazu kam seine ungewöhnliche Garderobe, die Kapuzenjacke, die Wanderschuhe.
Er saß im Arbeitszimmer des Direktors auf einem Sofa. Die Frau des Direktors brachte zwei Tassen Tee, dann ging sie wieder. Der Direktor saß ihm gegenüber auf einem Plüschsessel. Während Rühl sprach, stand der Direktor auf und ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab, dabei nahm er manchmal eine der Nippesfiguren in die Hand, die auf seinem Schreibtisch standen, betrachtete sie und stellte sie vorsichtig wieder zurück an ihren Platz.
Rühl gestand als Erstes, dass er die Unterprima B während der Klassenfahrt verlassen hatte, ohne Ankündigung, ohne Erklärung. Die Kollegin sei jetzt dort alleine. Dies allein schon sei unverzeihlich, begründen könne er sein Versagen nur mit seinen Nerven, er befinde sich, wie der Direktor wahrscheinlich bereits bemerkt habe, in einer nervlichen Ausnahmesituation.
»Ich habe mit einer Schülerin unerlaubten intimen Kontakt gehabt«, sagte Rühl.
Der Direktor fragte, was er sich darunter im Einzelnen vorzustellen habe.
»Sie haben sich darunter Sex vorzustellen«, sagte Rühl. »Das Mädchen stand nachts vor meiner Zimmertür, es wollte zu mir, es schwärmt für mich, es hatte fast nichts an. Damit will ich nichts entschuldigen. An der ganzen Sache bin ganz allein ich schuld.«
Der Direktor wollte wissen, um welche Schülerin es sich handele, ob die Eltern informiert seien, und ob eine Schwangerschaft im Bereich des Möglichen läge.
Rühl nannte den Namen. Er glaube nicht, dass die Eltern von der Sache wüssten. Eine Schwangerschaft sei unwahrscheinlich, er habe aufgepasst.
Der Direktor fragte, was jetzt mit dem Mädchen sei.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Rühl.
»War sie denn noch unberührt?«, fragte der Direktor.
»Ich glaube schon«, sagte Rühl.
»Fahren Sie nach Hause, Dr. Rühl«, sagte der Direktor. »Morgen gehen Sie am besten zum Arzt und lassen sich Beruhigungstabletten verschreiben. Er soll Ihnen auch gleich eine Krankmeldung geben, rückwirkend, ab heute. Ich fahre ins Schullandheim und schaue, was da los ist.«
Rühl spürte, wie Tränen in ihm aufstiegen. Der Direktor legte ihm die Hand auf die Schulter. Seine Stimme klang trotzdem kühl.
»Machen Sie bitte nicht so ein Bohei. So was kommt schon hin und wieder mal vor. Behalten Sie doch um Gottes willen die Nerven. Warum sind Sie denn abgehauen und zu mir gelaufen?«
Rühl schluchzte. »Ja, ist das denn nicht meine Pflicht?«
Der Direktor sagte nichts mehr, er griff Rühls Arm und führte ihn sanft zum Ausgang.
N. wechselte auf das Droste-Hülshoff-Gymnasium, an dem Sybille Bär unterrichtete, dort machte sie auch das Abitur. Obwohl Rühl ihm in Deutsch eine Vier minus gab, blieb Doubek zum zweiten Mal sitzen. Er
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