Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
hinkonnte und nur die Badehose runterziehen musste, es war zum Verrücktwerden. Viermal tagsüber, einmal morgens, ein- oder zweimal abends, das reichte ihm normalerweise.
Die Toilettentüren und auch die Zwischenwände reichten nicht bis zum Boden, es gab unten den üblichen Spalt. Er musste sich also hinsetzen, um nicht auffällig zu werden. Drei Minuten brauchte er mindestens. Wenn jemand drei Minuten lang in der Kabine steht, und es plätschert nicht, kann man sich denken, was los ist.
Am ersten Arbeitstag nach dem missratenen Weihnachtsfest, bei seiner zweiten inoffiziellen Pause, etwa um halb zehn, war zum ersten Mal eine der anderen Kabinen besetzt, die ganz hinten an der Wand. Insgesamt gab es fünf. Beim Eintreten fiel ihm das sofort auf. Eigentlich wollte er wieder kehrtmachen. Dann entschied er sich anders, ohne zu wissen, warum. Er ging in die vorletzte Kabine, die Kabine neben der, die besetzt war, und setzte sich. Er versuchte, so leise wie möglich zu sein.
Gunnar Reich wusste, dass seine Angewohnheit normal war, also relativ normal. Das wusste er seit Jahren, das konnte er überall lesen, sogar in der »Bravo« seiner kleinen Schwester. Vielleicht übertrieb er es ein bisschen, und wenn schon. Jeder Mensch ist halt anders. Es wurde aber immer mehr, die Tendenz war eindeutig steigend. Was ihn beunruhigte, war außerdem die Tatsache, dass ihn zu Mädchen, oder Frauen, eigentlich nichts hinzog, obwohl er nicht annahm, dass er schwul war. Er hatte ein paarmal versucht, sich das vorzustellen, wie das sein würde, was er tun würde, was ein Mann tun würde, aber das hatte ihn kaltgelassen. Trotzdem zog er diese Phantasie, um seiner Sache sicher zu sein, bis zum Ende durch.
Nein, er musste sich eine Frau vorstellen, damit es gut funktionierte. Aber außer Sex fand er an Frauen nichts, aber auch wirklich gar nichts anziehend. Die Vorstellung, mit einer Frau drei, vier oder fünf Abende verbringen zu müssen, bevor sie es endlich, endlich miteinander taten, denn so waren die Frauen nun einmal gestrickt, erschien ihm an manchen Tagen öde, an anderen Tagen machte ihm das Angst, an wieder anderen Tagen deprimierte ihn diese Aussicht einfach nur. Der Preis, den ein Mann für Sex zahlen musste, Zeit, Aufmerksamkeit, nicht enden wollende Gespräche, erschien ihm zu hoch. Eigentlich war er mit seiner Lebensweise ganz zufrieden, und genau das machte ihm Sorgen. Denn genau das war doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, das wirklich Perverse an ihm, dass ihm die unkomplizierte Coverversion lieber war als der echte, hochkomplizierte und extrem arbeitsaufwendige Originalsong.
In der Trennwand zwischen den beiden Kabinen befanden sich dort, wo ursprünglich ein Papierhalter befestigt gewesen war, zwei Löcher. Als Gunnar Reich sich, sechs Monate vor seinem neunzehnten Geburtstag, und noch immer unberührt, außer von ihm selber, niederkniete, um durch das größere der beiden Löcher zu spähen, war ihm immer noch nicht ganz klar, was er eigentlich bezweckte, was er suchte, ob es endgültige Klarheit war über seine sexuelle Vorliebe, ob es der Einblick war in Techniken der Befriedigung, die ihm noch unbekannt waren und die sein Leben bereichern könnten, oder ob er einfach nur die Bestätigung dafür suchte, dass er, mit seiner sonderbaren Freude an der Einsamkeit, nicht alleine war auf der Welt, dass auch dieser Robinson Crusoe, auf seiner unbewohnten Lustinsel, eines Tages seinen Freitag finden könnte.
Er sah eine Frau, zumindest Teile einer Frau. Das Gesicht lag außerhalb seines Blickfelds. Auf diesen Gedanken war er vorher nicht gekommen, dass auch so etwas möglich war. Die Waggonfabrik besaß eine Damentoilette, vorschriftsmäßig. Aber sie lag dort, wo die Büros sich befanden, also am anderen Ende des Geländes, sodass dieser Ort hier, was achselzuckend akzeptiert wurde, in dringenden Fällen auch von der Handvoll Frauen mitbenutzt wurde, die in der Produktion arbeiteten und nicht in den Büros. Mehr als zehn waren es sicher nicht.
Die Frau hatte ihre Jeans zu Boden geschoben, die Jeans ruhte auf ihren Knöcheln, ihre Hand befand sich in ihrer Unterhose, oder wie immer das bei den Frauen hieß, und bewegte sich dort rhythmisch hin und her. Eines der beiden Beine war angewinkelt, der dazu gehörige Fuß klopfte in genau dem gleichen Rhythmus auf den Boden, in dem die Hand auf- und niederging, während das andere Bein ausgestreckt war und sich an der Toilettentür abstützte. Das Becken der Frau bewegte sich
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