Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
alle sind bewusstlos oder tot.
Terroristen haben den Tower besetzt. Ein Mitglied der Crew ist Terrorist, er bringt alle übrigen um, jetzt verhandelt er in der Kabine über seine Forderungen, und uns überlässt er uns selber, weil er nur einer ist und weil wir ihn gemeinsam leicht überwältigen könnten.
Oder vielleicht eine Seuche. Vielleicht sind alle anderen tot. Nur oben in der Luft, in den Flugzeugen, haben die Menschen überlebt. Aber was ist mit der Crew?
Es gab bestimmt ein Dutzend solcher Theorien. Alle dachten über die Filme nach, die sie kannten. Ein paar Passagiere durchsuchten das Flugzeug, darunter wieder die beiden Männer, die versucht hatten, die Türen zu öffnen, und die sich selbst inzwischen, ohne dass darüber entschieden oder gesprochen worden wäre, als Führer ihrer Gemeinschaft verstanden. Sie fanden Fertigmenüs und Getränke. Das Essen ließen sie unberührt, einen Teil der Getränke verteilten sie. Jeder bekam ein Glas Mineralwasser oder Saft, die Getränkevorräte waren nicht groß.
Die Männer sagten, zuerst auf Deutsch, dann auf Englisch, dass es noch eine, vielleicht zwei weitere Getränkerationen für jeden gebe, man solle sparsam sein und nicht alles auf einmal verbrauchen. Außerdem sollten die Passagiere so wenig wie möglich die Toiletten benutzen. Wenn die Kapazität der Toiletten erschöpft sei, was früher oder später ohne jeden Zweifel der Fall sein müsse, dann werde ihre Lage noch unangenehmer. Die Männer standen während ihrer Ansprache vorne, in dem kleinen Raum, in dem sie nach der Landung die Stewardessen gesucht hatten.
Am schwierigsten war für die meisten Passagiere, auch für Lamin, auch für N., zu ihrer eigenen Überraschung die Tatsache, dass die Musik sich nicht abstellen ließ. Immer noch lief, in einer Endlosschleife, das Lied »Get down on it« von Kool and the Gang. Der Ton war leise genug, um sich ohne große Mühe zu unterhalten, aber eben doch unüberhörbar.
Einige versuchten, ihre Ohren mit kleinen Papierstöpseln zu verschließen. Das funktionierte nicht, weil ihre Gehirne aus den Bruchstücken von Musik, die es trotz der Barriere erreichten, die Melodie stets wieder neu zusammensetzte. Das Gehirn ließ sich genauso wenig abstellen wie die Musik.
Ein Lied, das man wieder und wieder hört, schien eine ähnliche Wirkung zu besitzen wie ein Wassertropfen, der wieder und wieder auf den Kopf eines gefesselten Gefangenen fällt. Hinter der Langeweile lag der Überdruss, hinter dem Überdruss lag die Wut, hinter der Wut lag die Verzweiflung. Und hinter der Verzweiflung lag vermutlich der Wahnsinn.
Natürlich hatten die beiden Männer versucht, dieses Problem zu lösen. Sie hatten die Musikanlage des Flugzeugs gefunden, die sich nicht unerreichbar hinter der Pilotentür befand, sondern vorne, in ihrer Reichweite. Sie drehten an den Schaltern, bewegten alles, was sich an dieser Maschine bewegen ließ, ohne den geringsten Erfolg. Zuletzt versuchten sie, das Gerät aus seiner Verankerung zu reißen, und scheiterten auch damit.
What you gonna do? You want to get down?
Get down on it, das bedeutete: Gib dir Mühe. Streng dich an. In der ersten Stunde ihrer Gefangenschaft leitete N. aus diesem Text ihre Idee ab, dass jemand sich einen Scherz mit ihnen machte. Inzwischen waren sie zu lange eingesperrt, es ging schon auf den Abend zu, ausgeschlossen, dass irgendein Sender so etwas zu inszenieren wagte.
Und doch, je öfter sie den Refrain hörten, zwanzigmal, fünfzigmal, hundertmal, mal bewusst, mal halb bewusst, mal versuchend, ihn zu ignorieren, was die Sache nicht besser, sondern schlimmer machte, je öfter sie sich anhören mussten, dass sie sich Mühe geben sollten, aber wie, aber womit, desto einleuchtender kam es den meisten Passagieren vor, dass sie, auf geheimnisvolle Weise, eben doch der Gegenstand eines grausamen, vorherbestimmten Spieles waren.
Lamin wusste nicht, welche Gefühle ihn mit N. verbanden. Fast alle Männer, die am Strand arbeiteten, träumten von Europa oder Amerika. Aber ausgerechnet er, dem dieses Glück tatsächlich widerfuhr, hatte sich darüber selten Gedanken gemacht. Vielleicht war es das, was ihn für N. so anziehend machte. Er verlangte nichts. Wenn sie sich unterhielten, lenkte er das Gespräch niemals auf das Thema Zukunft. Er war überrascht, als N. ihm den Handel vorschlug. Sie beschaffte das Visum, kaufte das Flugticket, besorgte ihm einen Job. Er würde fünf Jahre mit ihr zusammenleben, fünf Jahre, in denen er
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