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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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vorüberzogen. Ich bat ihn auszuschalten, und wir traten auf den Balkon hinaus, zwei Liegestühle fröstelten auf den Holzplanken, und um die Laternen herum schimmerte silbrig die Nacht. Das Tosen der Brandung wurde lauter. Man verstand sein eigenes Wort nicht mehr. Ich fing an zu brüllen. Für nichts und niemanden. Ein Schrei, so schwarz und tief wie die Nacht.
    Die Kinder gähnten, sie starben vor Hunger. Ich sah auf die Uhr, es war zu spät. Wir versuchten trotzdem unser Glück. In der Altstadt glänzten verfrühte Weihnachtslichter nur für uns, die Rue Saint-Vincent war menschenleer und stieg unter dem funkelnden Sternenzelt an. Wir betraten die einzige noch offene Crêperie. Ein Paar saß beim Kaffee, an den Wänden wucherte ein Wald, in dem sich Elfen, Feen und Zwerge versteckten. Mit Reißnägeln an der Decke befestigte Hexen drehten sich auf ihren Besen. Manon sah sich verzückt um, die Wirtin brachte es nicht übers Herz, uns in die Nacht zurückzuschicken.
    Wir aßen unsere Crêpes in Rekordzeit. Die Kleine war im siebten Himmel, sang und erfand unaufhörlich Reime, Geschichten, in denen jede Menge Kaninchen, Eichhörnchen, Kobolde und Lichtungen in dunklen Wäldern vorkamen. Sie hatte ein paar Figürchen aus ihrer afrikanischen Tasche hervorgekramt: einen Drachen, einen Ritter auf seinem Pferd, den Zauberer Merlin, drei Prinzen und zwei Prinzessinnen. Zwischen den Tellern und zwei Bissen lieferten wir uns blutige Kämpfe, küssten die schlafenden Schönen wach und veranstalteten langweilige Bälle. Wie zwei Verliebte machten wir uns wieder auf den Weg, Clément quengelte ein paar Schritte hinter uns, er war müde und fror. Während des Essens hatte er keinen Piep gesagt, aber ich machte mir keine Sorgen, insgesamt ging es schon besser, fand ich, besser jedenfalls, als ich gehofft hatte. Wir kehrten ins Hotel zurück, die Minibar war gefüllt, ich stellte die sechs kleinen Pullen auf den Terrassentisch, holte drei Decken, und während Clément, im Liegestuhl zusammengerollt, einschlummerte, trank ich in der Kälte, die der Wind noch verschärfte, und Manon kuschelte sich in meine Arme. Ab und zu streckte sie den Kopf aus ihrer wollenen Vermummung und erklärte fröhlich mit schläfriger Stimme, sie habe mich lieb, oder sie sei gar nicht müde. Ich muss noch vor ihr eingeschlafen sein.
    Als ich die Augen wieder aufschlug, waren wir drei fast erfroren, die Welt bestand nur noch aus dem Rauschen des Meeres, es nahm uns auf, verschluckte uns, und es tat gut, so überflutet, verschlungen, endgültig vergessen zu werden. Die Nacht beschützte uns, und in diesem Moment habe ich gedacht, es könnte wieder werden, hier würde ich die Scherben wieder zusammenfügen, von neuem Fuß fassen, die Kinder und mich dem Schmerz entreißen können, der uns seit Monaten lähmte. Das Haus mit unseren Spuren, mit den Erinnerungen an uns vier, war irgendwann unerträglich geworden, ich war fast nicht mehr ausgegangen, die Kinder waren vor meinen Augen verkümmert, ich hatte das Gefühl gehabt, das Licht sträubte sich hereinzukommen, alles würde früher oder später über uns zusammenstürzen. Das Unkraut im Garten, der Efeu, der Wein, die Tamariske, alles schien sich über uns zu schließen, uns zuzudecken und lebendig zu begraben. Alles wurde Dschungel, und ich glaubte uns verloren im schwarzen Herzen der Wälder. Wir mussten uns in Sicherheit bringen, ich sah keinen anderen Ausweg, ich bot das Haus zum Verkauf an, und jetzt waren wir hier, hier würden wir versuchen zu leben, in dieser Stadt am Meer, in der ich meine Kindheit verbracht hatte, und ohne lange darüber nachzudenken, vertraute ich uns ihr nun an.

»Na, dann gehen wir mal.«
    Der Große trank seinen Kaffee aus und gab mir eine schlaffe, rauhe Hand. Mit seinem Hundeblick, seinen feuchten Augen und den grauen Tränensäcken erinnerte er mich an den Nachbarn im vierten Stock, als ich Kind war, der gleiche aschfahle Teint, der gleiche Tabakgeruch, die gleiche Hose mit Farbflecken, der gleiche Fernfahrerpullover, die gleichen strohigen Haare. Ein Typ, den ich nie anders gesehen habe als mit einer Zigarette zwischen den Zähnen. Niemand wusste, wie er seinen Lebensunterhalt verdiente. Offiziell entrümpelte er Keller, Dachböden und so was. Er lud die Sachen in seinen schrottreifen weißen Lieferwagen, brachte einen Teil seiner Beute zur Müllhalde und verscherbelte das Übrige, so gut er konnte, auf Trödelmärkten oder in Gebrauchtwarenläden, oder er verteilte es

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