Geisterfahrer
danach alle Zeit der Welt. Nur eines ist nicht erlaubt: Umkehren. Das Leben kommt von vorn.
Am Montag nach meinem achtunddreißigsten Geburtstag, der gleichzeitig der fünfunfvierzigste Jahrestag des Mauerbaus war, gehen wir ins KaDeWe. Ich soll mir ein Geschenk aussuchen. Das ist nach wie vor das schönste Kaufhaus Berlins, und wir schlendern Hand in Hand durch die Abteilungen, schlürfen Champagner in der Fressetage, probieren Kleidung an, lassen feinseidene Dessous durch unsere Hände gleiten, schnüffeln an Parfums und bestaunen fremdartige Speisen. In der Spielzeugabteilung ist eine riesige Carrera-Bahn aufgebaut, zwei Kinder fahren Rennen, ihre Gesichter sind gerötet, ihre Hände, mit denen sie die Regler halten, sind verkrampft. Wir schauen eine Weile zu, und dann haut es einen der Wagen aus der Bahn, direkt vor mir, aus einem Reflex heraus fange ich ihn auf; im Moment gelingt mir einfach alles. So ist es eben, wenn man glücklich ist.
Da ist so eine Art Leitwerk unten am Auto, man muss es in eine Aussparung setzen, die in der Mitte der Schiene verläuft. Es dauert einen Moment, bis ich das System begriffen habe.
»Mach schon«, tönt der Junge, dessen Wagen herausgeflogen ist, und er stampft genervt mit dem Fuß auf. Sein Partner geht grinsend in Führung.
Ich setze das Auto in die Kurve, der Junge gibt Gas, sein Spielkamerad ruft »Vorsicht!«, aber da ist es auch schon passiert – ich habe das Auto nicht nur verkehrt herum aufgesetzt, sondern sogar auf die falsche Fahrbahn. In einer Kurve krachen die beiden Fahrzeuge mit voller Wucht aufeinander.
Die Autos überstehen die Kollision unbeschadet, die Kids sammeln die Wagen ein, werfen mir mitleidige Blicke zu und spielen weiter.
Melanie lacht, wir haken uns unter, kaufen für mich als Geburtstagsgeschenk eine Carrera-Bahn, verlassen das Kaufhaus und treten hinaus in den Sonnenschein.
Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag ist »Danke« von Xavier Naidoo.
Anmerkungen
Falls Sie mich auf einer Lesung besuchen oder mir, was ich sehr begrüßen würde, schreiben – ersparen Sie sich und mir bitte die immer wieder als Erstes gestellte Frage: »Ist das autobiographisch?« Nein, ist es nicht. Nur insoweit, wie alles, was sich Schriftsteller erdenken, irgendwie latent autobiographisch ist. Anders geht’s ja auch nicht.
Die Dachluke hat es zwar wirklich gegeben, aber dort hat meines Wissens nie ein DJ namens »Mo« gearbeitet. Dass Gunther »Hey, Boss, ich brauch mehr Geld« Gabriel gelegentlich Schallplattenalleinunterhalter in der Dachluke war, stimmt jedoch, aber das zweifelhafte Glück, ihn persönlich zu erleben, hatte ich nie. In den Räumen am Mehringdamm logiert seit 1990 das Mutterhaus des BKA (»Berliner Kabarett Anstalt«), in dem populäre Künstler wie Michael Mittermaier, Thomas Nicolai und Rosenstolz ihre ersten Auftritte hatten. Im BKA fanden auch Partys statt, bei einigen davon habe ich aufgelegt. Im Parterre des Hauses befindet sich eine der bekanntesten Currywurstbuden Berlins, das Curry 36. Warum ich das an dieser Stelle erwähne, weiß ich auch nicht.
Das BKA eröffnete später am Kulturforum neben der Neuen Nationalgalerie das BKA-Zelt, das nach ein paar Jahren erst auf den Schlossplatz neben dem ehemaligen Palast der Republik umzog, später dann in die Nähe des Ostbahnhofs, bis es unrentabel wurde. Im Zelt habe ich bei der »Anstaltsparty« (zuvor auch im Mutterhaus), bei »The 80s Club«, einer der ersten Berliner Achtziger-Revival-Partys, und bei einer der größten deutschen Singlepartys unter dem Motto »Fisch sucht Fahrrad« aufgelegt. Das tue ich übrigens heute noch spaßeshalber – wie damals mit Busenfreund und DJ-Kollegen Colin Clayford –, aber die Party findet nicht mehr im BKA statt, sondern in der Kalkscheune hinter dem Friedrichstadtpalast. Diese Location residiert in den restaurierten Räumen einer denkmalgeschützten ehemaligen Fabrik; das Gebäude existiert mindestens seit 1831 und wurde nach dem Mauerfall zu einem Veranstaltungsort für Konzerte, Events aller Art und Themenpartys, u.a. »Die schöne Party«, veranstaltet vom populären Berliner Sender radio eins . Neben einem großen Saal gibt es dort einen wunderschönen Innenhof und drei weitere Bars mit Tanzflächen.
Auch das Big Apple an der Bundesallee gab es, aber ein kiffender Techniker namens »Ringo« hat dort ziemlich sicher nie gearbeitet. In den Räumen befindet sich jetzt ein Fitnesscenter.
Das Ciro in der Rankestraße am Ku’damm war
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