Gesammelte Werke
häufig ruhte sein Blick auf Basini, wenn dieser, sich unbeobachtet glaubend, harmlos unter den anderen sich bewegte. «Einmal», dachte sich Törleß, «wird es schon wieder lebendig werden und dann vielleicht lebhafter und klarer als bisher.» Und er wurde ganz beruhigt durch diesen Gedanken, daß man sich solchen Dingen gegenüber einfach in einem finsteren Raume befinde und einem nichts übrigbleibe, als, wenn man die richtige Stelle wieder unter den Fingern verloren hat, nochmals und nochmals aufs Geratewohl die dunklen Wände abzutasten.
In den Nächten jedoch verfärbte sich dieser Gedanke ein wenig. Es überkam ihn da eine gewisse Beschämung darüber, daß er sich an seinem ursprünglichen Vorsatze, aus dem Buche, das ihm sein Lehrer gezeigt hatte, sich die vielleicht doch darin enthaltene Erklärung zu holen, so vorbeigedrückt hatte. Er lag dann ruhig und horchte zu Basini herüber, dessen geschändeter Körper friedlich wie die aller anderen atmete. Er lag ruhig, wie ein Jäger auf dem Anstände, mit dem Gefühle, daß die also verwartete Zeit ihren Lohn schon noch bringen werde. Sowie aber der Gedanke an das Buch auftauchte, nagte ein feinzahniger Zweifel an dieser Ruhe, eine Ahnung, daß er Unnützes tue, ein zögerndes Geständnis einer erlittenen Niederlage.
Sobald dieses unklare Gefühl sich geltend machte, verlor seine Aufmerksamkeit das Behagliche, mit dem man der Entwicklung eines wissenschaftlichen Experimentes zusieht. Ein körperlicher Einfluß schien dann von Basini auszugehen, ein Reiz, wie wenn man in der Nähe eines Weibes schläft, von dem man jeden Augenblick die Decke wegziehen kann. Ein Kitzel im Gehirn, der von dem Bewußtsein ausgeht, daß man nur die Hand auszustrecken brauche. Das, was junge Paare häufig zu Ausschweifungen treibt, die weit über ihr sinnliches Bedürfnis hinausgehen.
Je nach der Lebhaftigkeit, mit der ihm einfiel, daß sein Unterfangen ihm vielleicht lächerlich erscheinen müßte, wenn er das alles wüßte, was Kant, was sein Professor, was alle die wissen, welche mit ihren Studien fertig sind, je nach der Stärke dieser Erschütterung waren die sinnlichen Antriebe schwächer oder stärker, welche trotz der Stille des allgemeinen Schlafes seine Augen heiß und offen hielten. Ja zeitweilig loderten sie so mächtig in ihm empor, daß sie jeden anderen Gedanken erstickten. Wenn er sich in diesen Augenblicken halb willig, halb verzweifelt ihren Einflüsterungen hingab, so erging es ihm nur, wie es mit allen Menschen geht, die ja auch nie so sehr zu einer tollen, ausschweifenden, so sehr die Seele zerreißenden, mit wollüstiger Absicht zerreißenden, Sinnlichkeit neigen als dann, wenn sie einen Mißerfolg erlitten haben, der das Gleichgewicht ihres Selbstbewußtseins erschüttert. ––––
Wenn er dann nach Mitternacht endlich in unruhigem Schlummer lag, schien ihm einige Male, daß jemand aus der Gegend um Reitings oder Beinebergs Bett aufstand, seinen Mantel nahm und zu Basini hintrat. Dann verließen sie den Saal ... ... Aber es konnte auch eine Einbildung gewesen sein. ––––
Es kamen zwei Feiertage; da sie auf einen Montag und Dienstag fielen, ließ der Direktor den Zöglingen schon den Samstag frei, und es gab viertägige Ferien. Für Törleß war dies jedoch zu wenig, um die weite Reise nach Hause machen zu können; er hatte deswegen gehofft, daß wenigstens seine Eltern ihn besuchen würden, allein sein Vater wurde durch dringende Geschäfte im Ministerium festgehalten, und die Mutter fühlte sich unwohl, so daß sie sich nicht allein den Anstrengungen der Reise aussetzen konnte.
Erst als Törleß den Brief erhielt, in dem ihm seine Eltern absagten und viele zärtliche Tröstungen hinzufügten, fühlte er, daß es ihm so eigentlich ganz recht sei. Er hätte es beinahe als eine Störung empfunden, – zumindest hätte es ihn arg verwirrt, – wenn er seinen Eltern im jetzigen Zeitpunkte hätte gegenübertreten müssen.
Viele Zöglinge erhielten Einladungen auf naheliegende Besitzungen. Auch Dschjusch, dessen Eltern eine Tagreise im Wagen von der kleinen Stadt entfernt ein schönes Gut besaßen, nahm Urlaub, und Beineberg, Reiting, Hofmeier begleiteten ihn. Auch Basini war von Dschjusch eingeladen worden, allein Reiting hatte ihm befohlen abzulehnen. Törleß schützte vor, daß er nicht wisse, ob seine Eltern nicht doch noch kommen würden; er fühlte sich absolut nicht zu harmlos heiteren Festlichkeiten und Unterhaltungen gelaunt.
Samstag
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