Gesammelte Werke
den Mund kräuselt, ist der mächtigste, wenn nicht der durchaus einzige Zauber, mit dem ein Weib mich fesseln kann. »Romantik« – vorausgesetzt, dass meine Leser begreifen, was ich hier mit dem Wort besagen will – »Romantik« und »Weiblichkeit« sind für mich dieselben Begriffe, und was schließlich der Mann im Weibe wirklich liebt, ist einfach ihre Weiblichkeit. Annies Augen (ich hörte, wie jemand von drinnen rief: »Annie, Liebes!«) waren »geistvoll grau«, ihr Haar war ein lichtes Kastanienbraun; das war alles, was ich beobachten konnte.
Ihrer sehr artigen Einladung folgend, trat ich ein und durchschritt zunächst eine ziemlich weite Diele. Da ich hauptsächlich gekommen war, um zu beobachten, stellte ich fest, dass sich rechts von mir ein solches Fenster befand, wie sie von außen zu sehen gewesen waren, links eine Tür, die in das Hauptgemach führte, während gegenüber eine offene Tür mir Einblick in ein kleines Zimmer gestattete, das, von derselben Größe wie die Diele, als Arbeitszimmer eingerichtet war und ein großes Bogenfenster nach Norden hatte.
Ich trat ins Wohnzimmer und sah mich Mr Landor gegenüber, denn so war, wie ich später erfuhr, sein Name. Er war höflich, ja kordial von Wesen, aber ich blieb eben jetzt eifriger bedacht, die Einrichtung des Hauses, das mich so ungemein interessierte, zu betrachten, als die persönliche Erscheinung des Besitzers.
Der Nordflügel, den ich nun sah, bestand aus einem Schlafzimmer, dessen Tür in das Wohnzimmer führte. Den Boden bedeckte ein Teppich von prächtigem Gewebe: kleine grüne, kreisende Figuren auf weißem Grund. An den Fenstern befanden sich Vorhänge aus schneeweißem Jakonettmusselin; sie waren ziemlich schwer und hingen genau, vielleicht etwas steif, in strengen, gleichmäßigen Falten bis auf den Boden – genau bis auf den Boden. Die Wände waren mit einer sehr zarten französischen Tapete bekleidet, auf deren silbernem Grund ein blassgrüner Faden in Zickzacklinien hindurchlief. Sie wurde in ihrer ganzen Ausdehnung nur von drei kostbaren Lithographien Juliens »à trois crayons« unterbrochen, die ungerahmt an der Wand befestigt waren. Eine der Zeichnungen war eine Szene voll orientalischer Pracht oder besser Üppigkeit, eine andere ein Karnevalsbild, unvergleichlich geistvoll, die dritte bot den Kopf einer Griechin: Ein so göttlich schönes und dabei so herausfordernd unentschiedenes Antlitz hatte ich nie vorher gesehen.
Die gegenständliche Einrichtung bestand aus einem runden Tisch, ein paar Stühlen (darunter ein großer Schaukelstuhl) und einem Sofa oder besser einem »Kanapee«; es war aus glattem, gelblich-weiß lackiertem Ahornholz mit zarten, grünen Streifen, der Sitz war Rohrgeflecht. Die Stühle und der Tisch »passten« dazu, aber ganz offenbar war die Form eines jeden Gegenstandes von demselben Kopf entworfen, der »die Landschaft« angelegt hatte – man kann sich nichts Anmutigeres denken.
Auf dem Tisch lagen ein paar Bücher, stand eine große, eckige Kristallflasche mit einem eigenartigen Parfüm, eine Astral- (nicht Solar-) Lampe aus glattem Milchglas mit einer italienischen Glocke und eine große Vase strahlend blühender Blumen. Blumen in verschwenderischer Farbenpracht und zarten Düften bildeten tatsächlich den einzigen Schmuck des Zimmers. Der Kamin war fast ausgefüllt von einer Vase mit leuchtenden Geranien. Ein dreieckiges Wandbrett in jeder Zimmerecke trug je eine ähnliche Vase, nur ihr lieblicher Inhalt wechselte. Ein paar kleinere Sträuße zierten den Kaminsims, und späte Veilchen umdrängten die offenen Fenster.
Es liegt nicht in der Absicht dieser Erzählung, mehr zu geben als eine eingehende Schilderung von Mr Landors Wohnsitz, wie ich ihn fand.
Quellenverzeichnis
Metzengerstein
, übersetzt von Gisela Etzel, aus:
Werke
, Bd. 2, Originaltitel: »Metzengerstein«, erschienen 14. Januar 1832, in: Philadelphia Saturday Courier
Der Duc de d’Omelette
, übersetzt von Gisela Etzel, aus:
Werke
, Bd. 5, Originaltitel: »The Duc De L’Omelette«, erschienen 3. März 1832, in: Philadelphia Saturday Courier
Eine Geschichte aus Jerusalem
, übersetzt von Gisela Etzel, aus:
Werke
, Bd. 6, Originaltitel: »A Tale of Jerusalem«, erschienen 9. Juni 1832, in: Philadelphia Saturday Courier
Bon-Bon
, übersetzt von Gisela Etzel, aus:
Werke
, Bd. 5, Originaltitel: »Bon-Bon«, erschienen 1. Dezember 1832, in: Philadelphia Saturday Courier
Das Manuskript in der Flasche
, übersetzt von Gisela Etzel,
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