Geschichte der russischen Revolution Bd.1 - Februarrevolution
Industriebezirke war dieser Prozentsatz noch höher: für den Petrograder 44,4%, für den Moskauer sogar 57,3%. Ähnliche Resultate ergeben sich, vergleicht man die russische Industrie mit der britischen oder deutschen. Diese Tatsache, die wir zum ersten Male im Jahre 1908 festgestellt haben, verträgt sich schlecht mit der Vorstellung von der ökonomischen Rückständigkeit Rußlands. Indes widerlegt sie die Rückständigkeit nicht, sondern ist deren dialektische Ergänzung.
Die Verschmelzung des Industriekapitals mit dem Bankkapital wurde in Rußland wiederum so vollständig durchgeführt wie wohl kaum in einem anderen Lande. Doch bedeutete die Abhängigkeit der Industrie von den Banken gleichzeitig ihre Abhängigkeit vom westeuropäischen Geldmarkt. Die Schwerindustrie (Metall, Kohle, Naphtha) befand sich fast restlos unter der Kontrolle des ausländischen Finanzkapitals, das sich ein Hilfs- und Vermittlungssystem von Banken in Rußland geschaffen hatte. Die Leichtindustrie ging denselben Weg. Gehörten im ganzen rund 40% des gesamten Aktienkapitals in Rußland Ausländern, so war für die führenden Industriezweige dieser Prozentsatz noch bedeutend höher. Man kann ohne jede Übertreibung behaupten, daß sich die Kontrollpakete der Aktien der russischen Banken, Werke und Fabriken im Auslande befanden, wobei der Kapitalanteil Englands, Frankreichs und Belgiens fast doppelt so groß als der Deutschlands war.
Die Entstehungsbedingungen der russischen Industrie und deren Struktur bestimmten den sozialen Charakter der russischen Bourgeoisie und deren politisches Gesicht. Die außerordentliche Konzentration der Industrie bedeutete schon an sich, daß zwischen den kapitalistischen Spitzen und den Volksmassen keine Hierarchie von Übergangsschichten bestand. Dazu kommt, daß die Besitzer der wichtigsten Industrie-, Bank- und Transportunternehmen Ausländer waren, die nicht nur die aus Rußland herausgeholten Gewinne, sondern auch ihren politischen Einfluß in ausländischen Parlamenten realisierten und den Kampf um den russischen Parlamentarismus nicht nur nicht förderten, sondern ihm häufig sogar entgegenwirkten: es genügt, an die schändliche Rolle des offiziellen Frankreich zu denken. Dies waren die elementaren und unabwendbaren Ursachen der politischen Isoliertheit und des volksfeindlichen Charakters der russischen Bourgeoisie. War sie in der Morgenröte ihrer Geschichte zu unreif, die Reformation durchzusetzen, so erwies sie sich als überreif, als die Zeit für die Führung der Revolution gekommen war.
Entsprechend dem gesamten Entwicklungsgang des Landes wurde nicht das Zunfthandwerk, sondern die Landwirtschaft, nicht die Stadt, sondern das Dorf zum Reservoir, aus dem die russische Arbeiterklasse hervorging. Dabei entstand das russische Proletariat nicht allmählich, in Jahrhunderten, beschwert mit der Last der Vergangenheit wie in England, sondern sprunghaft, durch schroffe Wendung der Lage, der Verbindungen, der Beziehungen und durch jähen Bruch mit dem Gestern. Gerade dies in Verbindung mit dem konzentrierten Joch des Zarismus machte die russischen Arbeiter für die kühnsten Schlußfolgerungen des revolutionären Gedankens empfänglich, ähnlich wie die verspätete russische Industrie sich für das letzte Wort kapitalistischer Organisation empfänglich zeigte.
Die kurze Geschichte seiner Abstammung machte das russische Proletariat jedesmal aufs neue durch. Während sich in der metallverarbeitenden Industrie, besonders in Petersburg, eine Schicht erblicher Proletarier, die mit dem Dorfe endgültig gebrochen hatten, herauskristallisierte, überwog am Ural noch der Typus des Halbproletariers-Halbbauern. Der alljährliche Zustrom frischer Arbeitskraft aus den Dörfern in alle Industriebezirke erneuerte die Bindung des Proletariats mit seinem sozialen Reservoir.
Die politische Tatunfähigkeit der Bourgeoisie war unmittelbar bestimmt durch den Charakter ihrer Beziehungen zu Proletariat und Bauernschaft. Sie vermochte nicht das Proletariat zu führen, das ihr im Alltag feindlich gegenüberstand und sehr bald seine Aufgaben zu verallgemeinern lernte. Im gleichen Maße erwies sie sich aber zur Führung der Bauernschaft unfähig, da sie durch ein Netz gemeinsamer Interessen mit den Gutsbesitzern verbunden war und die Erschütterung des Eigentums in welcher Form auch immer fürchtete. Das Verspäten der russischen Revolution war folglich nicht nur eine Frage der Chronologie, sondern auch der sozialen Struktur
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