Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
Zugewinn an Freiheit, indem sie das Gewissen des Einzelnen zur höchsten moralischen Instanz erhob. Andererseits brachte sie in Gestalt des lutherischen und des anglikanischen Staatskirchentums erhöhten obrigkeitlichen Zwang, ja einen Rückfall hinter die bereits erreichte ansatzweise Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt und hinter die religiöse Toleranz, für die sich die Humanisten eingesetzt hatten. Im anglikanischen England rief die Freiheitsbeschränkung Widerstand hervor: den protestantischen Protest calvinistischer Nonkonformisten. Aus ihm entwickelte sich eine demokratische Bewegung, die auf der anderen Seite des Atlantiks, in den amerikanischen Kolonien der britischen Krone, so stark wurde, daß der neue Westen, Amerika, schließlich die Revolution gegen das Mutterland wagen konnte.
Im alten Westen war England freilich immer noch das freieste unter den größeren Ländern Europas. Hier wurde die mittelalterliche Gewaltenteilung zwischen fürstlicher und ständischer Gewalt weiterentwickelt zur modernen Gewaltenteilung, der Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt – der Gewaltenteilung, die 1748 in Montesquieus «Geist der Gesetze» ihren klassischen Ausdruck fand. Zusammen mit den Ideen von den unveräußerlichen Menschenrechten, der Herrschaft des Rechts und der repräsentativen Demokratie gehört die Gewaltenteilung zum Kernbestand dessen, was wir als das normative Projekt des Westens oder die westliche Wertegemeinschaft bezeichnen können.
Dieses Projekt war keine reine Neuschöpfung des Zeitalters der Aufklärung. Vielmehr hatte es, wie die Aufklärung selbst, Wurzeln, die tief in die Geschichte des Westens, bis ins Mittelalter und die Antike, zurückreichen. Das Projekt des Westens war auch kein rein europäisches Werk, sondern das Ergebnis transatlantischer Zusammenarbeit: Die ersten Menschenrechtserklärungen wurden, beginnend mit der Virginia Declaration of Rights vom 12. Juni 1776, auf britischem Kolonialboden in Nordamerika beschlossen und verkündet. Sie beeinflußten auf das stärkste die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung am 26. August 1789. Seit den beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, war das Projekt des Westens im wesentlichen ausformuliert. Der Westen hatte einen Maßstab, an dem er sich messen konnte – und messen lassen mußte.
Bis sich der gesamte Westen zu diesem Projekt bekannte, vergingen zwei Jahrhunderte. Die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts bestand zu einem großen Teil aus Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung der Ideen von 1776 und 1789. Es gab viele Auflehnungen westlicher Länder gegen die Ideen der Amerikanischen und der Französischen Revolution, geboren aus dem Geist des Nationalismus, der in vieler Hinsicht selbst ein Phänomen der westlichen Moderne war, darunter die radikalste dieser Auflehnungen, die deutsche, die im Nationalsozialismus gipfelte. Und es gab die Länder Ostmitteleuropas, die erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus 1989/90 wieder die Möglichkeit erhielten, sich im westlichen Sinn zu entwickeln. Die Verwestlichung des Westens war mithin ein Prozeß, dessen hervorstechendes Kennzeichen die Ungleichzeitigkeit bildet.
Nicht minder markant ist ein anderes Merkmal der Entwicklung des Westens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert: der Widerspruch zwischen dem normativen Projekt und der politischen Praxis. Unter den Verfassern der ersten Menschrechtserklärungen und der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 waren Sklavenbesitzer. Hätten die Gegner der Sklaverei auf deren Abschaffung bestanden, wäre die erstrebte Loslösung der 13 Kolonien vom englischen Mutterland daran gescheitert. Das Gründungsversprechen aber war ein revolutionäres: Wenn die Unabhängigkeitserklärung allen Menschen bescheinigte, sie seien frei geboren und von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet worden, dann wurde die Sklaverei erst recht zum Skandal und der Kampf um ihre Aufhebung und das Verbot des Sklavenhandels zur historischen und normativen Notwendigkeit. In diesem langwierigen Kampf zeigte sich, daß das Projekt am Ende stärker war als die Praxis: So zynisch der Westen sich gegenüber der nichtwestlichen Welt meist verhielt, so besaß er doch die Fähigkeit zur Selbstkritik, zur Korrektur seiner Praxis und zur
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