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Moskauer Diva

Moskauer Diva

Titel: Moskauer Diva Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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Noch acht Einheiten bis zum Soloabend
    Ein harmonischer Mensch
    Für einen harmonischen Menschen hielt sich Erast Petrowitsch, seit er die erste Stufe der Weisheit erlangt hatte. Das geschah weder zu spät noch zu früh, sondern genau zur rechten Zeit – in einem Alter, in dem man bereits Bilanz ziehen sollte, aber seine Pläne noch ändern kann.
    Die wichtigste Schlussfolgerung, die er aus den erlebten Jahren zog, war eine äußerst kurze Maxime, die ebenso viel wert war wie sämtliche philosophischen Lehren zusammen:
Alt werden, das ist gut.
»Alt werden« bedeutet reifen, das heißt, nicht schlechter werden, sondern besser – stärker, weiser, vollkommener. Empfindet der Mensch das Altern jedoch nicht als Gewinn, sondern als Verlust, heißt das, dass sein Schiff vom Kurs abgekommen ist.
    Um im seemännischen Bild zu bleiben, kann man sagen, dass Fandorin die Riffe des fünfzigsten Geburtstages, an denen Männer häufig Schiffbruch erleiden, mit vollen Segeln und wehender Flagge umschifft hatte. Zwar hätte die Mannschaft beinahe rebelliert, aber es war noch einmal gut gegangen.
    Der Meutereiversuch hatte just am Tag seines halbhundertjährigen Jubiläums stattgefunden, was natürlich kein Zufall war. Diese Zahl besitzt zweifellos eine gewisse Magie, die nur Menschen ohne jede Phantasie nicht spüren.
    Nachdem Erast Petrowitsch seinen Geburtstag mit einem Spaziergang im Taucheranzug auf dem Meeresgrund begangen hatte(zu der Zeit war er ein leidenschaftlicher Taucher), saß er am Abend auf der Veranda, betrachtete das auf der Esplanade flanierende Publikum, schlürfte einen Rumpunsch und sagte sich dabei in Gedanken immer wieder: »Ich bin fünfzig, ich bin fünfzig« – als koste er ein unbekanntes Getränk. Plötzlich blieb sein Blick an einem uralten Greis mit einem weißen Panamahut hängen; ein Mulatte schob die vertrocknete, zitternde Mumie in einem Rollstuhl. Der Blick des Methusalems war trübe, an seinem Kinn hing ein Speichelfaden.
    Ich hoffe, ich werde nie so alt, dachte Fandorin – und begriff, dass er erschrocken war. Noch mehr erschrak er darüber, dass der Gedanke an das Alter ihn erschreckt hatte.
    Die Stimmung war verdorben. Er ging in sein Zimmer, ließ seine Jadekette durch die Finger gleiten und malte das japanische Schriftzeichen »Alter« auf ein Blatt Papier. Als er das Blatt mit Darstellungen des Symbolsin allen möglichen Stilen bedeckt hatte, war das Problem gelöst und eine Konzeption entwickelt. Die Meuterei an Bord war besiegt. Erast Petrowitsch hatte die erste Stufe der Weisheit erklommen.
    Das Leben kann nie bergab gehen, nur bergauf – bis zum allerletzten Augenblick. Das erstens.
    Die oft zitierte Puschkin-Zeile »So eilt denn Tag um Tag, und jeder Tag raubt uns ein Teilchen unsres Seins« enthält einen logischen Fehler. Wahrscheinlich war der Dichter gerade von Schwermut befallen, oder es handelt sich einfach um einen Schreibfehler. Das Gedicht müsste lauten: »So eilt denn Tag um Tag, und jeder Tag
schenkt
uns ein Teilchen unsres Seins.« Wenn der Mensch richtig lebt, macht ihn der Lauf der Zeit nicht ärmer, sondern reicher. Das zweitens.
    Altern muss eine gewinnbringende Transaktion sein, ein natürlicher Tausch physischer und intellektueller Stärke gegen mentale, äußerer Schönheit gegen innere. Das drittens.
    Alles hängt von der Sorte deines Weins ab. Ist er minderwertig, wird er mit der Zeit sauer. Ist er edel, wird er nur besser. Darausfolgt: Je älter der Mensch wird, desto
qualitativ besser
muss er werden. Das viertens.
    Und schließlich fünftens. Ein Nachlassen der physischen und intellektuellen Kraft wollte Erast Petrowitsch nicht zulassen. Zu diesem Zweck erarbeitete er ein spezielles Programm.
    In jedem kommenden Lebensjahr wollte er eine neue Grenze erreichen. Sogar zwei Grenzen: eine sportlich-physische und eine intellektuelle. So würde das Altern nicht beängstigend, sondern interessant sein.
    Relativ schnell war der Perspektivplan der bevorstehenden Expansion erstellt – ein Plan, für den womöglich die nächsten fünfzig Jahre gar nicht reichen würden.
    An intellektuellen Aufgaben nahm Fandorin sich vor: endlich richtig Deutsch zu lernen, da ein Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn offensichtlich unvermeidlich war; Chinesisch zu lernen (dafür würde ein Jahr nicht reichen, er würde zwei brauchen – und das auch nur, weil er mit den Schriftzeichen bereits vertraut war); eine schändliche Lücke in seinem Weltbild zu schließen und sich

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