Geschichten aus der Müllerstraße
und generöses Parken in zweiter oder bei starkem Verkehr auch ausnahmsweise in dritter Reihe, ist erste Weddinger Kavaliersschule. Der galante Boyfriend wartet die paar Stunden bei laufendem Motor und aufgedrehtem Dolby Surround in seinem 3er BMW vor
H&M
, verstaut all die Taschen mit frischen Stringtangas und XS-Blüschen fachgerecht im Kofferraum und fährt seine Freundin anschließend souverän auf die andere Straßenseite der Müllerstraße, wo sie bei ihren Eltern wohnt. All diese Meerengen muss man als Pkw-Kapitän, getrieben vom Müllerstraßenstrom, sorgsam umschiffen.
Fünfte Hürde: Kreuzung Müllerstraße/Seestraße
Die Kreuzung der Seestraße und der Müllerstraße ist eine Kreuzung aus Fluch und Pestilenz: Fluchtilenz, nur ein bisschen gefährlicher noch. Denn der Wedding ist arm, er hat nicht nur keine Blinker, er hat auch keine Zeit. An der Ampelanlage dieser vielfahrstreifigen Asphalthydra hat man die Gelbphasen konsequent eingespart. Nicht, dass die gelben Lampen nicht vorhanden wären, aber sie wurden quasi gleichgeschaltet und auf ihre Beleuchtungseigenschaft reduziert. Springt für den einen Verkehr die Ampel von Grün auf Gelb, springt sie zeitgleich woanders von Rot auf Gelb. Wer gerade noch bei Gelb fährt, begegnet also auf der Kreuzungsmitte all den ungeduldigen Heißspornen, deren Testosteronfüße schon bei Gelb das Gaspedal bis zum Anschlag durchdrücken.
Wehe, man muss an dieser Kreuzung links abbiegen! Lücken sind im Verkehrsfluss hier nicht vorgesehen, dafür haben irre Verkehrsplaner in der Kreuzungsmitte ein paar Parkplätze für Linksabbieger auf den Straßenbahngleisen eingerichtet. Bevor man hier wegkommt, kann man in aller Ruhe sein Lunchpaket auspacken, Brotzeit machen oder bei entsprechender Insassenkonstellation ein Kind zeugen, austragen und nach dem Abbiegen am Montessori-Kindergarten an der Seestraße absetzen. Nur eines darf man hier nicht: unaufmerksam sein, denn dank der allseits eingesparten Gelbphasen gilt es, blitzschnell zu sein und im richtigen Moment Vollgas zu geben, um mit seinem Kleinwagen rechtzeitig von der Kreuzung zu hechten, bevor einen der nächste Sattelschlepper von der Seestraße als fleischumwickelte B-Säule ins Alhambra-Kino schiebt.
Wer in diesem Moment den Motor abwürgt oder eine zögerliche Prenzlmutti mit »Pascal-Theophanes an Bord«-Aufkleber vor sich hat, ist verloren. Für jemanden, der mit einem einundzwanzig Jahre alten Peugeot 205 eine gesamte Ampelumlaufphase als vergessener Linksabbieger in der Mitte der Kreuzung Müllerstraße/Seestraße ausharren muss, ist dagegen der Begriff »Hölle auf Erden« nur ein müder Euphemismus.
Treffen nicht gerade Kraftwagen aufeinander, stehen zumindest Fußgänger im Weg, die naturgemäß gar kein Gelb haben, wieso auch? Sie haben ja die größte Knautschzone.
Man kann es so zusammenfassen: Die gesamte Kreuzung Müllerstraße/Seestraße ist dafür konzipiert, die Weddinger Bevölkerung effektiv zu minimieren. Entweder wird man in Pkws zerquetscht oder von Pkws zermalmt oder verhungert entkräftet auf einem Mittelstreifen. Dies ist die einzig mir bekannte Straßenkreuzung Berlins, wo sich auf dem Mittelstreifen eine eigene Gastronomie zur Versorgung der dort Gestrandeten angesiedelt hat. Selbst eine City-Toilette hat man hier aufgestellt. Fehlt nur noch ein »Hostel zur Mittelpromenade«.
Als Autofahrer, der glücklicherweise nur geradeaus will, gilt es, sich vor dieser Kreuzung frühzeitig auf der Mittelspur einzufädeln, dann die Augen zu schließen, Gas zu geben und sie erst nach drei Sekunden wieder zu öffnen, wenn man bis dahin keine scheppernden Geräusche oder dumpfen Aufpralle vernommen hat. Hat man Entsprechendes gehört, kann man die Augen getrost länger zulassen.
Sechste Hürde: Fußgänger bei
real
Da den meisten Weddingern die Kreuzung Müllerstraße/Seestraße auch nicht geheuer ist, machen sie andernorts rüber. Auf Höhe des
real
-Marktes im Schiller Park Center gibt es einen fleißigen Fußgängerquerungsverkehr. Das ist tückisch, denn die meisten Autofahrer machen nach dem Passieren der Kreuzung Müllerstraße/Seestraße erst hier die Augen wieder auf. Die Folge sind plötzliche Bremsmanöver und Auffahrunfälle. Zudem wiegen die Einkäufe schwer. Der Weddinger aus dem Afrikanischen Viertel nimmt auf dem Hinweg zum Einkaufscenter Wartezeit an Ampeln noch in Kauf, doch spätestens auf dem Rückweg stürzen sich auch betagte Mütterchen geradewegs in den fließenden Verkehr,
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