Suesse Versuchung
1. K APITEL
Aber das war doch wirklich nicht vorauszusehen, versuchte Sophie ihren Vater zu
beruhigen, der vor ihr hin und her rannte und ihr bei jeder Kehrtwendung einen
vernichtenden Blick zuwarf. Sie war von einem der Hausmädchen ins Arbeitszimmer
zitiert worden, und nun hockte sie schuldbewusst vor dem mit Aufstellungen, Notizen
und Rechnungsbüchern überfüllten Schreibtisch, während ihr Vater bereits mindestens
das zwanzigste Mal mit langen, wütenden Schritten den großen Raum durchmaß. Ihre
Mutter saß mit der ihr eigenen Gelassenheit in einem Lehnstuhl und sah aufmerksam
von einem zum anderen.
Robert McIntosh blieb so unvermittelt stehen, dass sich der Teppich zusammenschob.
Nicht vorauszusehen? Nicht vorauszusehen?! Seit wann hättest du denn überhaupt
jemals etwas vorausgesehen?! Halt den Mund!, fuhr er Sophie an, bevor sie etwas
antworten konnte. Wahrhaftig, noch nie habe ich so sehr den Wunsch verspürt, dir
eine Ohrfeige zu geben! Und das will etwas heißen! Was heißt eine Ohrfeige, tobte er
unvermindert weiter, obwohl er in dieser Lautstärke schon seit gut einer halben Stunde
mit seiner Tochter kommunizierte, eine Tracht Prügel! Mit dem Stock! Und dann
fünf Wochen lang in dein Zimmer gesperrt! Bei Wasser und Brot!
Sophie verzog gekränkt den Mund. Woher hätten wir denn wissen sollen, dass so
etwas passiert?
Ruhe!, donnerte ihr Vater sie an. Mach noch einmal den Mund auf und du wirst
deinen Vater von einer anderen Seite kennenlernen! Und wenn sich dieses missratene
Bürschchen nicht durch einen Beinbruch vor Strafe gedrückt hätte, würde ich ihn
ebenso verprügeln wie dich! Ins Kloster sollte ich dich stecken, wenn mich die armen,
unschuldigen und reinen Frauen dort nicht erbarmen würden! Mir reicht es mit dir!
Mir reicht es völlig! Es ist Schluss mit dem Unfug! Ein für alle Mal! Du bist
schlimmer als alle meine anderen Kinder zusammen! Robert McIntosh warf in einer
dramatischen Geste die Arme zum Himmel empor. Dem Herrn sei Dank, dass ich nur
eine von deiner Sorte habe! Nicht auszudenken, wenn deine Schwester so wäre wie
du!
Das ist deine Schuld, erklang die kühle Stimme seiner Frau, die sich nun zum
ersten Mal einmischte. Du hast sie wie einen Jungen erzogen. Und dabei weil sie ja
ein Mädchen ist auch noch zusätzlich verzogen. Kein Wunder, dass sie jetzt noch
wilder ist als die anderen zusammen.
Meine Schuld?! Du bist ihre Mutter! Du hättest dich darum kümmern sollen, dass
deine Tochter eine angemessene Erziehung erhält!
Ach, und wer hat sie denn immer auf die Jagd mitgenommen? Und wer hat ihr
Reiten und Jagen beigebracht, und wer hat sich über ihre Streiche amüsiert? Und wer
Schluss jetzt! Darum geht es nicht, unterbrach ihr Mann sie rüde. Es geht um
Sophies Zukunft. Und dir, wandte er sich wieder an seine Tochter, habe ich letztes
Mal schon gesagt, dass weitere Unsitten Konsequenzen haben werden. Und jetzt ist
das Maß voll! Deine Mutter und ich haben uns entschieden. Du wirst heiraten.
Heiraten? Sophie sprang auf. Nur weil dieses blöde alte Bergwerk eingestürzt
ist?
Nicht weil das Bergwerk eingestürzt ist, brüllte ihr Vater sie an, sondern weil du
und Patrick fast darin begraben worden wärt! Er schlug sich mit der Hand auf die
Stirn. Gold suchen! In einem aufgelassenen Kohlenbergwerk!
Aber das hatten wir doch in unserer Chronik gelesen! Schon vor zweihundert Jahren
hat dort jemand nach Gold gesucht!
Und schon damals keines gefunden!! Die Stimme ihres Vaters brachte die
Fensterscheiben zum Klirren. Aber damit hat es jetzt ein Ende! Soll sich dein
zukünftiger Mann mit dir ärgern ich bin dazu nicht mehr bereit!
Ach, und wen soll ich denn heiraten? Das düstere Glimmen in Sophies Augen sagte
jedem, der sie kannte, dass hier noch mit größtem Widerstand zu rechnen war. Und
Robert McIntosh kannte seine Tochter durch und durch. Er hatte einundzwanzig Jahre
Zeit gehabt, jede ihrer Seiten kennenzulernen. Und er wusste ebenfalls nur zu gut, dass
sie sein Temperament geerbt hatte.
McGregor, sagte er kurz.
Patrick? Sophie riss die Augen auf. Patrick McGregor war ihr Jugendfreund. Er
war ein Jahr jünger als sie, und die beiden hatten sich seit jeher hervorragend ergänzt,
was Abenteuerlust, Draufgängertum und einen gewissen Hang, sich in
Schwierigkeiten zu bringen, betraf. Sie mochte Patrick, liebte
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