Geteiltes Geheimnis
nichts zwischen uns gewesen sei – an jenem Abend, an dem ich in der Les Filles de Frenchmen Revue getanzt hatte? An dem wir küssend den Weg zum Café zurückgelegt hatten, die Treppen hinauf, in den schmutzigen Raum, wo er mir das Kostüm vom Leib gerissen und mich auf eine vom Mondlicht beschienene Matratze geworfen hatte? Er hatte keine Ahnung, aber ich hatte ihn in jener Nacht als meine finale Fantasie auserwählt. Er wusste damals lediglich, wie sehr ich ihn wollte. Für mich waren damit die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit aufgehoben worden, und er war zu etwas sehr Realem geworden. An seiner Haut fühlte ich mich heimisch. Wir hatten uns geküsst, als ob wir seit Jahrzehnten zusammen wären. Wir passten zueinander, unsere Körper waren perfekt für die Dinge geschaffen, die wir ganz natürlich miteinander trieben – wortlos. Es war mehr als ein Traum. Und der Gedanke, dass er den ganzen Tag vor meiner Nase gewesen war, und ich ihn nicht wahrgenommen hatte, ihn nicht hatte wahrnehmen können …
Aber nach einem Jahr S.E.C.R.E.T. , nachdem ich mich ein Jahr lang von den mir selbst auferlegten Beschränkungen befreit hatte, hatte sich in mir etwas sehr Wirkliches freigesetzt. Und als Will mir gesagt hatte, dass er und Tracina sich getrennt hatten, hatte ich das Gefühl gehabt, dass das Universum sich endlich zu meinen Gunsten ausrichtete. Am Morgen nach unserer magischen Nacht hatte ich geglaubt, dass Will die Belohnung war. Die Belohnung dafür, dass ich wieder zum Leben erwacht war.
Aber das war ein Irrtum gewesen.
Mehr als jede andere Erinnerung an diesen Abend ist es Tracinas Gesicht, das mich verfolgt – aschgrau, dennoch voller Hoffnung, während ihre ruhige Stimme mir die harte Tatsache unterbreitet, die sämtliche Träume tötet. Die Tatsache, dass sie ein Kind von Will bekommt. Dass er begeistert war, als er davon erfuhr.
Was macht man mit dieser sehr realen Information, wenn man gerade geglaubt hat, die Liebe seines Lebens gefunden zu haben? Man spürt, wie die Luftblase, welche die eigene Fantasie umgibt, zerplatzt, und man läuft weg, um alles hinter sich zu lassen. Zumindest ich habe das getan. Erst rannte ich durch die ganze Stadt, dann zum Kutschenhaus, wo Matilda mir die Tränen trocknete. Dort erinnerte sie mich daran, dass jeder Fantasie ein Stück Wirklichkeit innewohnt. »Menschen lieben Fantasien«, sagte sie. »Aber zu ihrem eigenen Nachteil ignorieren sie die Tatsachen. Und dafür bezahlt man immer einen Preis. Immer.«
Fakt Nummer eins: Will und ich waren letztlich doch zusammengekommen.
Fakt Nummer zwei: Ich war wahrscheinlich immer noch verliebt in ihn.
Fakt Nummer drei: Seine Exfreundin war schwanger.
Fakt Nummer vier: Als sie es ihm sagte, wurden sie wieder ein Paar.
Fakt Nummer fünf: Will und ich konnten nicht zusammen sein.
Weil Will mein Chef war, hatte ich eigentlich vorgehabt, meinen Job sofort aufzugeben. Aber Matilda hatte mich inständig gebeten, nie zuzulassen, dass großer Kummer meine praktischen Lebensumstände wie Arbeiten, das Zahlen der Miete und andere Verpflichtungen beeinträchtigte. »So viel Macht darfst du den Männern niemals einräumen, Cassie. Widme dich weiterhin der Aufgabe zu leben. Du hattest im vergangenen Jahr ja schon jede Menge Übung.«
An jenem Morgen war ich so ein tränenüberströmtes Fiasko, dass ich nicht sicher war, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, mich S.E.C.R.E.T. anzuschließen. Aber wenigstens war es überhaupt eine Entscheidung. Das war für mich etwas Neues. Vor S.E.C.R.E.T. hatte immer eine ungeheuer starke Macht mein Leben fremdbestimmt. Vorzugsweise war dies mein verstorbener Mann Scott gewesen. Er hatte uns vor fast acht Jahren nach New Orleans gebracht, aber seine Trunksucht hatte jegliche Hoffnung auf einen Neubeginn zunichtegemacht. Er kam bei einem Autounfall ums Leben; damals war er nüchtern gewesen, aber ein gebrochener Mann. Auch in mir war etwas zerbrochen. Noch fünf Jahre später arbeitete ich hart und schlief unruhig, wurde von Isolation und Selbstmitleid übermannt – bis mir eines Tages das Tagebuch einer Frau in die Hände fiel, in dem sie detailliert ihre Reise durch eine geheimnisvolle Folge von Schritten schilderte, die eine Menge mit Sex zu tun haben schienen. Eine Reise, die – gelinde gesagt – wesensverändernd war.
Dann lernte ich Matilda Greene kennen, die Frau, die meine Begleiterin wurde. Sie behauptete, ins Café Rose gekommen zu sein, um das Tagebuch zu finden, das ihre
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