Gezähmt von sanfter Hand
hinüber, das auseinander gefaltet auf ihrem Frisiertisch lag. Ein Rechtsanwalt aus Perth hatte ihr geschrieben, um sie vom Tode ihres Vormunds, Seamus McEnery, in Kenntnis zu setzen und sie gleichzeitig zu bitten, zur Testamentsverlesung zum McEnery House zu kommen. Das McEnery House stand auf einem kahlen, öden Hügel in den Trossachs, nordwestlich von Perth; vor ihrem geistigen Auge konnte Catriona das Haus deutlich sehen – es war der einzige Ort außerhalb des Tales, an dem sie schon mehrere Tage verbracht hatte.
Vor sechs Jahren, als ihre Eltern gestorben waren, war Seamus, der Cousin ihres Vaters, traditionsgemäß ihr gesetzlicher Vormund geworden. Er war ein kalter, harter Mann und hatte darauf bestanden, dass sie ihren Wohnsitz ins McEnery House verlegte, damit er leichter einen Gatten für sie finden konnte – einen Mann, der ihre Ländereien übernehmen würde. Da Seamus mit strenger Hand ihre Finanzen verwaltet und sie ziemlich kurz gehalten hatte, war Catriona gezwungen gewesen, ihm zu gehorchen; und so hatte sie das Tal verlassen und war in den Norden gereist, um ihn zu treffen.
Sie wollte mit ihrem Vormund um ihr Erbe kämpfen, um ihre Unabhängigkeit und ihr unveräußerliches Recht, die Herrin des Tales zu bleiben, auf Casphairn Manor zu wohnen und für ihre Leute zu sorgen. Drei dramatische und nervenaufreibende Wochen später war sie in ihr Tal zurückgekehrt; Seamus hatte kein Wort mehr über Freier oder über Catrionas Bestimmung verloren. Und er hatte, dessen war Catriona sich ziemlich sicher, auch nie wieder den Namen Der Herrin missbraucht.
Nun war Seamus tot. Sein ältester Sohn, Jamie, würde jetzt seine Nachfolge antreten. Catriona kannte Jamie; wie alle Kinder von Seamus, so war auch er sanftmütig und willensschwach und nicht wie Seamus. Catriona hatte überlegt, wie sie am besten auf die Aufforderung des Anwalts reagieren sollte, und wollte gleich zu Anfang unmissverständlich klarstellen, dass sie sich nicht herumkommandieren ließ. Jamie sollte sie nach der Testamentsverlesung und seiner formellen Ernennung zu ihrem Vormund hier, im Gutshaus, besuchen. Obwohl sie im Umgang mit Jamie eigentlich keine Schwierigkeiten sah, zog sie es doch vor, aus einer Position der Stärke heraus zu verhandeln. Das Tal war ihr Zuhause; innerhalb seiner Grenzen war sie die unangefochtene Herrscherin. Und dennoch …
Catrionas Blick schweifte erneut zu dem pergamentenen Schriftstück auf dem Frisiertisch; nach einem kurzen Augenblick begannen seine Umrisse zu verschwimmen – und wieder stieg die Vision vor ihrem geistigen Auge auf. Eine volle Minute lang betrachtete sie das Bild, das sie im Geiste vor sich sah. Sie konnte das Gesicht des geheimnisvollen Unbekannten nun ganz deutlich erkennen – die gerade, patriarchalische Nase, das eckige, energische Kinn, die Züge, die in ihrer Kantigkeit und Härte wie aus Stein gemeißelt wirkten. Seine Stirn war unter einem Schwall lockigen schwarzen Haares verborgen, seine stechenden blauen Augen lagen tief unter kühn geschwungenen schwarzen Brauen und waren von dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Seine Lippen, zu einer geraden, unnachgiebigen Linie zusammengepresst, sagten ihr nur wenig; tatsächlich schien er ein Mann zu sein, der seine Gedanken und Gefühle vor neugierigen Beobachtern sorgsam verbarg.
Sie war jedoch keine neugierige Beobachterin. Catriona beschlich eine Vorahnung – nein, es war die unumstößliche Gewissheit –, dass sie ihn irgendwann treffen würde. Sie bündelte die Kraft ihrer Gedanken, um hinter seine undurchsichtige Fassade zu schlüpfen, und öffnete zögernd ihre Sinne.
Hunger, heiß und gierig – ein heftiges, animalisches Verlangen –, stürmte aus den Tiefen seines Inneren auf sie ein. Er liebkoste sie mit glutheißen Fingern, eine Anziehungskraft, die fast greifbar schien und auf die sie instinktiv reagierte. Hinter diesem sinnlichen Verlangen, verborgen in den tieferen Schatten seines Wesens, lauerte … Ruhelosigkeit. Ein aus tiefster Seele empfundenes Gefühl, führerlos auf dem Meer des Lebens dahinzutreiben.
Catriona blinzelte und zog sich wieder in ihre vertraute Schlafkammer zurück. Sie sah den Brief, der noch immer auf ihrer Frisierkommode lag, und schnitt eine Grimasse. Sie verstand sich recht gut darauf, die Botschaften Der Herrin zu interpretieren – und diese hier war sonnenklar. Sie sollte zum McEnery House reisen, und zu irgendeinem Zeitpunkt würde sie dem ruhelosen, hungrigen, reservierten Fremden
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