Gezähmt von sanfter Hand
einen Moment auf der steinernen Treppe des Gasthofs stehen, atmete die frische, frostklare Nachtluft ein und fühlte, wie die Kälte ihr einen klaren Kopf verschaffte. Belebt und erfrischt zog sie ihren Umhang fester um sich und ging hinaus, den Blick auf ihre Füße geheftet, sorgsam darauf bedacht, nicht auf dem vereisten Schnee auszurutschen.
Auf dem Friedhof, im Schutze der hohen Mauer, blickte Richard auf das Grab seiner Mutter hinab. Die Inschrift auf dem Grabstein war nur kurz: Lady Eleanor McEnery, Gattin von Seamus McEnery, Gutsherr von Keltyhead. Mehr stand nicht darauf geschrieben. Keine liebevolle Widmung, keine Erwähnung des unehelichen Sohnes, den sie zurückgelassen hatte.
Richards Gesichtsausdruck veränderte sich nicht; er hatte sich schon lange mit seinem Status abgefunden. Als er damals auf der Türschwelle seines Vaters ausgesetzt worden war, hatte Helena, Devils Mutter, alle verblüfft, indem sie Richard ohne zu zögern als ihr eigen Fleisch und Blut ausgegeben hatte. Auf diese Weise hatte sie ihm zu seinem Platz unter den oberen Zehntausend verholfen. Selbst heute noch würde niemand es wagen, ihr Missfallen zu riskieren, indem er auch nur eine leise Andeutung darüber fallen ließe, dass Richard nicht der war, der er Helenas Behauptung nach war. Nämlich der eheliche Sohn seines Vaters. Ausgestattet mit einer instinktiven Klugheit, Gewitztheit und unendlichen Großzügigkeit, hatte Helena ihm seinen Rang in der Gesellschaft gesichert; und Richard hatte niemals aufgehört, ihr dafür dankbar zu sein.
Die Frau jedoch, deren Gebeine unter diesem kalten Grabstein ruhten, hatte ihm das Leben geschenkt – und er konnte nichts tun, um ihr dafür zu danken.
Außer vielleicht das Leben in vollen Zügen zu genießen.
Das Einzige, was er über seine Mutter wusste, hatte er von seinem Vater erfahren; als Richard ihn einmal in aller Unschuld gefragt hatte, ob er seine Mutter geliebt habe, hatte Sebastian ihm zärtlich das Haar zerzaust und erklärt: »Sie war sehr hübsch und sehr einsam – sie verdiente mehr als das, was die Ehe ihr gab.« Dann hatte er kurz innegehalten und schließlich hinzugefügt: »Sie tat mir Leid.« Er hatte Richard angeblickt, und sein Mund hatte sich zu einem breiten Lächeln verzogen. »Aber dich liebe ich von ganzem Herzen. Ich bedaure ihren Tod, aber ich kann nicht bedauern, dass du geboren wurdest.«
Richard konnte jetzt verstehen, wie seinem Vater zu Mute gewesen war, er war schließlich mit Leib und Seele ein Cynster. Familie, Kinder, Heim und Herd – das waren die Dinge, die für die Cynsters von höchster Bedeutung waren, die wichtigsten Ziele, für die sie kämpften, und die größten Siege des Lebens.
Minutenlang stand Richard still vor dem Grab seiner Mutter, bis die Kälte schließlich durch seine Stiefel drang. Mit einem Seufzer richtete er sich auf und machte nach einem allerletzten Blick auf den Grabstein kehrt, um den Weg zurückzugehen, den er gekommen war.
Was mochte seine Mutter ihm hinterlassen haben? Und warum hatte Seamus, nachdem er ihr Vermächtnis all die Jahre über geheim gehalten hatte, ihn jetzt, nach seinem eigenen Tod, wieder zum McEnery House zitiert? Langsam und tief in Gedanken versunken ging Richard um die Kirche herum. Das Knirschen seiner Schritte auf dem hart gefrorenen Schnee wurde vom Wind übertönt, der leise durch die schneebeladenen Äste der Bäume pfiff. Er erreichte den Hauptweg – und hörte ganz plötzlich forsche, entschlossene Schritte, die sich von einer Stelle hinter der Kirche näherten. Richard blieb stehen, drehte sich um und erblickte …
… ein geradezu märchenhaftes Geschöpf, umgeben vom Schimmer des Mondlichts.
Es war eine Frau, eingehüllt in einen dunklen, wogenden Umhang, ihr Kopf war unbedeckt. Über ihre Schultern und weit ihren Rücken hinunter wallte eine prachtvolle Mähne dichten, lockigen, seidig schimmernden Haares, das kupferrot im Mondlicht glänzte und sich wie ein wahres Leuchtfeuer gegen die dunklen, winterlich kahlen Bäume hinter ihr abhob. Ihr Gang war energisch, jeder einzelne Schritt entschlossen und zielstrebig, ihr Blick auf den Boden gerichtet. Richard hätte schwören können, dass sie nicht darauf achtete, wo sie hintrat.
Sie ging unaufhaltsam weiter den Hauptweg entlang und strebte geradewegs auf Richard zu. Er konnte weder ihr Gesicht noch ihre Figur unter dem weiten, wallenden Umhang sehen, doch sein Instinkt täuschte ihn nur selten. Seine Sinne erwachten und konzentrierten
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