Gezähmt von sanfter Hand
Catriona jedoch nicht, tiefer einzudringen. Das Bild war jetzt äußerst scharf – er war nahe.
Catriona sog scharf den Atem ein, blinzelte und zog sich wieder zurück. An der Tür ertönte ein kurzes Klopfen, gleich darauf schwang sie auf, und herein kam Algaria. Sie sah augenblicklich, womit Catriona sich beschäftigt hatte. Rasch schloss sie die Tür hinter sich. »Was hast du gesehen?«
Catriona schüttelte den Kopf. »Es ist alles ziemlich verwirrend.« Das Gesicht des geheimnisvollen Fremden war sogar noch härter, als sie ursprünglich gedacht hatte; seine Züge waren von Willenskraft und Stärke geprägt, Eigenschaften, die sich so deutlich in seinem Antlitz abzeichneten, dass jeder sie erkennen konnte. Er war ein Mann, der keinen Grund hatte, seinen Charakter zu verbergen – er trug die Zeichen ganz offen und anmaßend zur Schau, wie der Häuptling eines Stammes.
Wie ein Krieger.
Catriona runzelte die Stirn. Immer wieder stolperte sie über dieses Wort, aber sie brauchte keinen Krieger – sie brauchte einen zahmen, friedfertigen, entgegenkommenden und möglichst auf Anhieb in sie vernarrten Gentleman, den sie heiraten konnte, um eine Erbin zu zeugen. Der geheimnisvolle Fremde aus ihrer Vision passte jedoch nur in einer einzigen Beziehung in ihr Konzept – er war unbestreitbar männlich. Die Herrin, Sie Die Alles Wusste, konnte ihn doch unmöglich als Ehemann für sie auserkoren haben!
»Aber wenn nicht das, was dann?« Ratlos schob Catriona die silberne Schale beiseite, lehnte sich auf den Tisch und stützte ihr Kinn in die Hand. »Ich muss die Botschaften wohl irgendwie falsch verstehen.« Das war ihr seit ihrem vierzehnten Lebensjahr nicht mehr passiert. »Vielleicht gibt es ja zwei von ihnen?«
»Zwei wovon?« Algaria strich neugierig um Catriona herum. »Was war das für eine Vision?«
Catriona schüttelte den Kopf. Die Angelegenheit war bei weitem zu persönlich, zu heikel, um sie jemand anderem zu enthüllen, nicht einmal Algaria, die seit dem Tode ihrer Mutter ihre treue und weise Ratgeberin war. Sie würde erst mit ihr darüber sprechen können, wenn sie selbst der Sache auf den Grund gegangen war und sie voll und ganz verstand.
Was immer sie verstehen sollte.
»Es hat keinen Zweck.« Entschlossen stand Catriona auf. »Ich muss Die Herrin direkt konsultieren.«
»Was? Jetzt?« Algaria starrte sie verdutzt an. »Draußen ist es bitterkalt.«
»Ich gehe nur zu dem Kreis am Ende des Friedhofs. Ich werde nicht lange draußen bleiben.« Catriona hasste Unsicherheit, das Gefühl, sich ihres Weges nicht sicher zu sein. Und diesmal hatte die Unsicherheit eine ungewöhnliche Nervosität und Angespanntheit mit sich gebracht, gepaart mit einem Gefühl der Erwartung, einem seltsamen, beunruhigenden Vorgefühl der Erregung. Nicht die Art von Erregung, die sie gewohnt war, sondern etwas Prickelnderes, Verlockenderes. Mit einer raschen Bewegung legte sie sich ihren Umhang um die Schultern und band die Bänder am Hals zu einer Schleife.
»Unten im Erdgeschoss ist ein Gentleman.« Algarias schwarze Augen blitzten. »Einer, dem du besser aus dem Weg gehen solltest.«
»So?« Catriona zögerte. Konnte es sein, dass ihr Zukünftiger hier war, unter demselben Dach? Die nervöse Anspannung, die sie bei diesem Gedanken befiel, bestärkte sie nur noch in ihrem Entschluss, und sie knüpfte die Bänder ihres Umhangs zu einem festen Knoten. »Ich werde schon dafür sorgen, dass er mich nicht zu Gesicht bekommt. Und jeder im Dorf kennt mich vom Sehen her – zumindest in diesem Aufzug.« Sie löste ihr zu einem Knoten aufgestecktes Haar und ließ es offen um ihre Schultern wallen. »Hier droht mir keine Gefahr.«
Algaria seufzte. »Na schön – aber trödle nicht herum. Ich nehme an, du wirst mir bald sagen, worum es eigentlich geht.«
Catriona, bereits an der Tür, schenkte ihr ein rasches Lächeln. »Das verspreche ich dir. Sobald ich mir ganz sicher bin.«
Auf halbem Weg die Treppe hinunter erblickte sie den Gentleman, von dem Algaria gesprochen hatte – er war klein, dicklich, makellos gekleidet und gerade damit beschäftigt, die ausrangierten Zeitungen im Gesellschaftszimmer des Gasthofs zu inspizieren. Sein Gesicht war ebenso kreisrund wie seine Gestalt; er war definitiv nicht ihr Krieger. Auf leisen Sohlen eilte Catriona durch die Halle. Sie benötigte einen kurzen Augenblick, um die schwere Tür zu öffnen, die noch nicht für die Nacht verriegelt war.
Und dann war Catriona draußen.
Sie blieb
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