Gezeiten der Liebe
überhaupt irgendwas tun kann. Nicht, wenn wir beide uns so verschiedene Dinge wünschen.«
Anna stieß die Luft aus. »Grace, die Entscheidung liegt einzig und allein bei dir. Aber laß mich dir eines sagen: Cam und ich sind auch nicht auf rosaroten Wolken zum Traualtar geflogen. Wir wollten verschiedene Dinge – oder dachten es zumindest. Und um herauszufinden, was wir gemeinsam haben wir uns gegenseitig verletzt, wir haben uns gefetzt, aber wir haben unseren Weg gefunden.«
»Es ist schwer, sich mit Ethan zu fetzen.«
»Aber es ist nicht unmöglich.«
»Nein, unmöglich ist es nicht, aber ... Er war nicht ehrlich zu mir, Anna. Trotz allem anderen kann ich das nicht vergessen. Er hat zugelassen, daß ich meine Tagträume spinne, obgleich er die ganze Zeit wußte, daß er die Fäden abschneiden und mich fallenlassen würde. Es tut ihm leid, ich weiß, aber dennoch ...«
»Du bist zornig.«
»Ja, das stimmt wohl. Dasselbe hat mir schon ein anderer Mann angetan. Mein Vater«, fügte sie kühl hinzu. »Ich wollte Tänzerin werden, und er wußte genau, daß ich all meine Hoffnungen darauf setzte. Ich kann zwar nicht behaupten, daß er mich je ermutigt hätte, aber er hat zugelassen, daß ich Unterricht nahm und mir meine Zukunft als Tänzerin ausmalte. Und als ich darauf angewiesen war, daß er zu mir stand und mir half, meinen Traum zu verwirklichen ... hat er die Fäden zerschnitten. Ich habe ihm verziehen, oder ich habe es zumindest versucht, aber danach war es nie mehr so wie früher. Dann wurde ich schwanger und heiratete Jack. Ich schätze, man könnte sagen,
daß ich damit die Fäden meines Vaters zerschnitten habe. Er hat mir nie verziehen.«
»Hast du denn versucht, dich mal mit ihm auszusprechen?«
»Nein. Auch er hat mir die Wahl gelassen, so wie Ethan, oder was sie für eine Wahl halten. Übernimm ihre Vorstellungen. Akzeptiere, was sie wollen, oder du mußt ohne sie klarkommen. Also komme ich lieber ohne sie klar.«
»Das kann ich verstehen. Eine stolze Haltung, aber was richtet das in deinem Herzen an?«
»Wenn die Menschen einem das Herz brechen, ist der Stolz alles, was einem noch bleibt.«
Und ohne Herz, dachte Anna, konnte Stolz kalt und bitter werden. »Laß mich mit Ethan reden.«
»Ich werde mit ihm reden, sobald ich mir überlegt habe, was es noch zu reden gibt.« Sie holte tief Luft. »Ich fühle mich schon besser«, sagte sie. »Es hilft, alles laut auszusprechen. Und es gab sonst niemanden, dem ich es hätte erzählen können.«
»Ich mag euch beide sehr.«
»Ich weiß. Wir werden es schon schaffen.« Sie drückte Annas Hand, bevor sie aufstand. »Du hast mir über die Tränen hinweggeholfen. Ich hasse es, ständig den Tränen nahe zu sein. Und jetzt gehe ich und reagiere einen Teil der Wut ab, die in mir steckt.« Sie brachte eine Lächeln zustande. »Wenn ich fertig bin, wird euer Haus quietschsauber sein. Ich putze wie eine wahnsinnige, wenn ich meine Wut abreagieren will.«
Reagiere bloß nicht alles ab, dachte Anna, als Grace ins Haus ging. Spar dir für Ethan, diesen Trottel, noch was auf.
Es dauerte zweieinhalb Stunden, bis Grace sich durch das zweite Stockwerk geschrubbt, geputzt, gewischt und gebohnert hatte. In Ethans Zimmer, wo sein Geruch und der
Geruch der See in der Luft hing und überall die kleinen, alltäglichen Dinge verstreut waren, die an ihn erinnerten, hätte sie fast schlappgemacht.
Aber sie nahm sich zusammen und aktivierte den stählernen Kern, der sie schon durch eine Scheidung und den schmerzhafen Bruch mit der Familie gebracht hatte.
Die Arbeit half, wie immer. Gute, anstrengende körperliche Arbeit nahm sowohl ihre Hände als auch ihren Verstand in Anspruch. Das Leben ging weiter. Sie kannte sich damit aus. Man mußte es Stück für Stück angehen.
Sie hatte ihr Kind. Sie hatte ihren Stolz. Und sie hatte auch noch Träume – obwohl sie an dem Punkt angelangt war, an dem sie lieber Pläne zu den Träumen sagte.
Zweifellos konnte sie ohne Ethan leben. Nicht so erfüllt vielleicht, auf keinen Fall so glücklich. Aber sie konnte leben und produktiv sein und Zufriedenheit finden auf dem Weg, den sie für sich und ihre Tochter gewählt hatte.
Mit Tränen und mit Selbstmitleid war sie fertig.
Dieselbe Entschlossenheit begleitete sie ins Erdgeschoß. Die Möbel wurden poliert, bis sie glänzten. Das Glas wurde gewienert, bis es funkelte. Sie hängte die Wäsche auf, fegte die Veranden und kämpfte gegen den Schmutz an, als wäre er ein Feind,
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