Gib mir Menschen
nicht. Sie blieb und starb in meinen Armen, ohne noch ein einziges Wort zu sagen. Ihr Wehklagen erstickte meine Hand. Ihr Tod war gleichzeitig deine Geburt, Sandra.
Der Erdhügel, zu dem wir an jedem Sonntag hinausgehen, das ist das Grab deiner Mutter. Ich kenne ihren Namen nicht und weiß nicht, wer sie wirklich war. Aber sie beherrschte ihr Prana virtuos, und darum kann ich einfach nicht verstehen, daß sie dir nichts von ihren Fähigkeiten vererbt hat, Sandra. Bist du wirklich so blöd, daß du nicht merkst, was ich von dir will? Es ist doch nicht viel, nur … Sandra, gib mir Menschen!«
Er verstummt abrupt und starrt in der Stille seine Tochter an, als wolle er sie hypnotisieren. Sie erwidert seinen Blick ausdruckslos. Ihre dumme, stupide Fratze macht ihn rasend. Als sie die Veränderung an ihm merkt, hebt sie instinktiv die Arme und wird auf ihrem Stuhl ganz klein.
Er kann sich gerade noch einmal beherrschen.
Das Heulen des Sturmes hat sich gelegt. Es ist angenehm warm in der Hütte. Durch die Schlitze der hölzernen Fensterläden fällt Tageslicht in Streifen. Er kann gar nicht verstehen, daß soviel Zeit vergangen ist, und denkt, daß er während des Erzählens ein paarmal eingeschlafen war. Die Bilder der Vergangenheit sind sehr lebendig in ihm. Vielleicht hat er von den alten Zeiten geträumt.
Kein Wunder, daß er Tonis Aufzeichnungen nie gefunden hat. Es hat sie nie gegeben, sie existierten nur in seiner Einbildung, wie auch Toni selbst nur Illusion gewesen war. Ihm ist alles klar. Er weiß, wieso es möglich war, daß jedesmal dann einer seiner Freunde auftauchte, wenn sich Langeweile eingeschlichen hatte und ihre Gemeinschaft wieder Blutauffrischung brauchte.
Sandra – es war gar nicht Sandra, seine Frau, auch das weiß er natürlich, aber er nennt sie so, weil er sich daran gewöhnt hat und weil er ihren richtigen Namen nicht kennt – Sandra kannte ja seine Gedanken und brauchte sich nur nach seinen Wünschen zu richten.
Vielleicht, wahrscheinlich sogar, wollte sie ihm mit einem Kind einen echten Menschen zum Geschenk machen.
»Ich bin nicht verrückt«, versicherte er seiner Tochter. »Ich weiß sehr gut, daß alles nur Einbildung war, und ich würde mich wieder damit begnügen.«
Er blickt seine Tochter erwartungsvoll an. Aber er ist hoffnungslos, sie ist eine Debile. Sie hat nichts von ihrer Mutter mitbekommen. Es ist zum Verzweifeln.
»Glotz nicht so dämlich!«
Er kann diesen Blick nicht mehr ertragen. Er verfolgt ihn, seit Sandra zum erstenmal die Augen aufgeschlagen hat. Schon damals hat er erkannt, was für ein verkümmerter Geist dahintersteckt. Was macht es dann eigentlich für einen Unterschied, ob er mit dieser Idiotin zusammenlebt oder allein ist? Er hat mit ihr ohnehin nichts als Scherereien.
»Bebe-mama-dada.«
Da platzt ihm der Kragen. Er springt auf, schlüpft in den Pelz und packt Sandra. Er tut es, ohne zu überlegen. Es muß getan werden, je früher desto besser. Er erträgt diesen Zustand nicht mehr länger.
Er stürzt ins Freie und stapft mit dem Mädchen auf den Schultern durch den Schnee. Sie gibt keinen Mucks von sich, begreift sicher überhaupt nicht, was da mit ihr passiert. Dort ist der Wald, und er dringt in ihn ein. Er marschiert lange durch das unwegsame Gelände, es geht immer steil den Hügel hinan. Rings um ihn die Stämme der Baumriesen wie die Säulen einer Kathedrale. Über ihm das Dach aus immergrünen Nadeln und Schnee. Dort die Spur eines Tieres. Hier Sandras Grab. Er läßt sie einfach fallen und geht weg. Er dreht sich nicht mehr nach ihr um, nachdem er ihr einmal den Rücken gekehrt hat. Es erleichtert ihm die Sache, daß sie noch immer keinen Ton von sich gibt.
Gütiges, einsichtiges Schicksal, es ist getan. Nicht mehr daran denken.
Er ist der letzte Mensch auf Erden.
Er erreicht seine Hütte, die sich nur von außen verriegeln läßt. Seine erste Handlung, nachdem er seine Freiheit wiedergewonnen hat, besteht darin, daß er den Außenriegel entfernt. Er braucht ihn nicht mehr. Endlich allein! Der Spruch an der Wand mutet ihn wie eine Verhöhnung an.
»Ich brauche keine Menschen!«
Er schreit es.
Kaum sind die Worte verhallt, da klopft es an der Tür. Er versteift sich, rührt sich nicht. Er wagt nicht einmal zu atmen. Angestrengt lauscht er auf die Wiederholung des Geräusches. Aber das Klopfen ertönt kein zweitesmal. Dafür wird die Tür aufgestoßen.
Draußen steht Freddy. Er trägt die kleine Sandra im Arm.
»Hallo, altes Haus,
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