Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
Wählerischer oder schamhafter als Könige und Königinnen vergangener Zeiten, die sich nie fürchteten, sich mit den Kurtisanen zu beschäftigen, wagt die moderne Verwaltung oder Politik es nicht mehr, dieser Wunde der großen Städte ins Gesicht zu sehen. Sicherlich müssen sich die Maßregeln mit den Zelten wandeln, und solche, die das Individuum und seine Freiheit angreifen, sind heikel; aber vielleicht sollte man sich in den rein materiellen Dingen, in bezug auf Licht, Luft und Lokale, weitherzig und kühn zeigen. Der Moralist, der Künstler und der weise Verwalter werden die alten Holzgalerien des Palais Royal zurückersehnen, wo sich diese Schäflein drängten, die immer dahin kommen werden, wohin die Spaziergänger gehen: und ist es nicht besser, wenn die Spaziergänger dahin gehen, wo sie sich befinden? Was ist geschehen? Heute sind die glänzendsten Teile der Boulevards, ist diese Zauberpromenade am Abend der Familie entzogen. Die Polizei hat die Auskunftsmittel nicht zu benutzen verstanden, die ihr in dieser Hinsicht einige Durchgänge boten, so daß sie die öffentliche Straße hätte retten können.
Das auf dem Opernball von einem Wort gebrochene Mädchen wohnte seit einem oder zwei Monaten in der Rue de Langlade, in einem Hause von gemeinem Äußeren. Dieser Bau, der sich an die Mauer eines ungeheuren Hauses anlehnt, ist schlecht stuckiert, ohne Tiefe und von fabelhafter Höhe; er bezieht sein Licht von der Straße und hat nicht geringe Ähnlichkeit mit einer Hühnerstiege. In jedem Stockwerk liegt eine Wohnung von zwei Zimmern. Eine schmale Treppe führt hinauf, die an die Mauer angeklebt ist und wunderlich beleuchtet wird durch Fensterklappen; die geben außen den Gang des Gewindes an, und jeder Treppenabsatz wird markiert durch eine Abflußrinne, eine der scheußlichsten Eigentümlichkelten von Paris. Laden und Zwischenstock gehörten ehemals einem Blechschmied; der Besitzer des Hauses wohnte im ersten Stock; die vier andern Stockwerke hatten sehr anständige Grisetten inne, die vom Wirt und der Schließerin allerlei Rücksichten und Gefälligkeiten beanspruchen konnten, weil es schwer war, ein so sonderbar gebautes und gelegenes Haus zu vermieten. Der Charakter dieses Viertels findet seine Erklärung eben im Vorhandensein einer großen Menge solcher Häuser, die der Handel nicht will und die nur von verleugneten, anrüchigen oder würdelosen Industrien ausgebeutet werden können.
Um drei Uhr nachmittags hatte die Pförtnerin, die um zwei Uhr morgens gesehen hatte, wie Fräulein Esther sterbenskrank von einem jungen Mann nach Hause gebracht wurde, eben mit der Grisette vom obern Stockwerk beratschlagt; das Mädchen hatte ihr, ehe sie in den Wagen stieg, um sich zu einer Lustpartie zu begeben, gesagt, wie unruhig sie in betreff Esthers wäre: sie hätte sie sich nicht rühren hören. Esther schlief ohne Zweifel noch; aber dieser Schlummer schien verdächtig. Da die Pförtnerin in ihrer Loge allein war, bedauerte sie, nicht hinaufsteigen zu können, um sich zu erkundigen, was im vierten Stock, wo Fräulein Esther wohnte, vorging. In dem Augenblick, als sie sich entschloß, die Wache in ihrer Loge, einer Art Nische im Zwischenstock, wo die Mauer ein wenig einsprang, dem Sohn des Blechschmieds anzuvertrauen, hielt ein Fiaker vor der Tür. Ein Mann, der vom Kopf bis zu den Füßen in einen Mantel eingehüllt war, und zwar in der offenbaren Absicht, sein Kostüm oder seinen Stand zu verbergen, stieg aus und fragte nach Fräulein Escher. Die Pförtnerin war sofort vollkommen beruhigt; das Schweigen und die Ruhe bei der Eingeschlossenen schienen ihr jetzt ganz erklärlich. Als der Besucher die Stufen oberhalb der Loge hinaufstieg, bemerkte die Pförtnerin die silbernen Schnallen, die seine Schuhe verzierten; sie glaubte die Fransen des Gürtels einer Soutane zu sehen; sie ging hinunter und fragte den Kutscher, der wortlos Antwort gab, und die Pförtnerin begriff abermals. Der Priester pochte, erhielt keine Antwort, hörte leises Stöhnen und erbrach die Tür mit einem Schulterhub, und zwar mit einer Kraft, wie sie ihm zweifellos die Wohltätigkeit verlieh, die aber bei jedem andern die Gewohnheit verraten hätte. Er eilte in das zweite Zimmer und sah die arme Esther vor einer heiligen Jungfrau aus farbigem Stuck knien; oder besser, sie war dort mit gefalteten Händen zusammengebrochen. Die Grisette lag in den letzten Zügen. Ein Becken mit verbrannter Kohle erzählte die Geschichte dieses furchtbaren
Weitere Kostenlose Bücher