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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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überhaupt nicht komme.
    Als sie wieder erwachte, war es späterer Nachmittag, und sie brauchte eine Weile, um sich wieder zurechtzufinden. Sie war es nicht gewohnt, tagsüber zu schlafen und hatte einen schweren Kopf. Im Badezimmer ließ sie das Wasser aus dem Hahn laufen, bis es ganz kalt war, hielt dann beide Hände darunter und kühlte sich damit das Gesicht. Danach rieb sie sich mit einem Frottiertuch trocken und schaute sich im Spiegel an.
    Sie sah eine Frau zwischen vierzig und fünfzig, mit schwarzem Kraushaar, blauen Augen, einer Stupsnase und ganz leichten Sommersprossen. Mit diesem Gesicht war Isabelle durchaus zufrieden; überhaupt gefiel sie sich so, wie sie war, außer dass sie gern ein paar Kilo weniger gehabt hätte. Im Übrigen wurde sie öfters jünger eingeschätzt, dabei hatte sie eine 22jährige Tochter.
    Was ging in einem Mann vor, der dieser Frau im Spiegel behilflich sein wollte? Wollte er sich bei ihr einschmeicheln? Wollte er sie kennenlernen? Wäre er mit ihr zum Flughafen gefahren? Hätte er sie um ihre Adresse gebeten? Oder wollte er einfach ohne jeden Hintergedanken freundlich sein und der Frau, die mit einem Koffer etwas hilflos am Fuß einer Treppe stand, einen Dienst erweisen? Denn dass sie eine Frau war, spielte zweifellos mit, er sah aus wie jemand, der einem auch in den Mantel helfen würde, jemand, der über Umgangsformen verfügte und der mit Vergnügen in die alte und heute etwas vergessene Rolle des Gentleman schlüpfte.
    »Hätte ich mir, wenn ich ein Mann wäre, auch geholfen?« fragte sich Isabelle, merkte jedoch, dass ihre Vorstellungskraft bei dieser Frage versagte. Tatsache war, ihr hatte jemand geholfen, ein fremder Mann, und war dann oben auf der Treppe tot zusammengebrochen. Hatte er sich mit dem Gewicht des Koffers zu viel zugemutet? Aber so schwer war dieser nun auch wieder nicht, ohne ihre Operation hätte sie das locker geschafft. Wäre der Mann auch gestorben, wenn er ihr nicht den Koffer getragen hätte? Ein Herzversagen, wenn es denn das war, kommt ja nicht aus dem Nichts, das baut sich auf, Kreislaufprobleme, Herzrhythmusstörungen, zu hoher Blutdruck, oder sogar ein Herzklappenfehler, möglicherweise nicht diagnostiziert, schwere Sorgen, Stress … Der Mann hatte nicht gewirkt, als ob er im Stress wäre, dann wäre er auch kaum auf die Idee gekommen, jemandem einfach so zu helfen. Sein Alter? Nicht ganz leicht zu schätzen, doch eher älter, als er sich gab. Ein Bärtchen strafft das Aussehen und verbirgt Hautfalten, aber als sie ihm die Hand von der Brust genommen hatte, um sein Hemd zu öffnen, das fiel ihr jetzt ein, hatte sie braune Leberflecken und Runzeln darauf gesehen, also bestimmt über sechzig, um die siebzig eher, bei entsprechendem Vorleben ohne weiteres Zeit für ein Herzversagen, das ja auch bedeutend Jüngere trifft. Isabelle suchte dringend nach Gründen, warum nicht sie und ihr Koffer die Hauptschuldigen sein konnten.
    Ihre Freundin war furchtbar enttäuscht, als Isabelle ihr am Telefon mitteilte, dass sie nicht kommen konnte. Bei der Schilderung des fatalen Vorfalls geriet sie ins Stocken und brach auf einmal in Tränen aus. »Ich konnte es nicht wissen!« rief sie weinend in den Hörer, »nicht wahr, Barbara, ich konnte es nicht wissen?« Barbara versuchte sie zu beruhigen. Auf keinen Fall habe sie das wissen können, das sei doch klar, und sie habe den Mann ja nicht gebeten, er habe es offenbar von sich aus getan, freiwillig, ein Gutmensch eben. Isabelle hörte auf zu weinen. Nein, sagte sie entschieden, nein, ein Gutmensch sei das nicht gewesen, eher der Typ mit perfekten Manieren.
    Ob sie denn nicht vielleicht ein paar Tage später noch fahren wolle, fragte ihre Freundin, es sei prächtiges Spätsommerwetter und das Meer angenehm warm, doch Isabelle erklärte ihr, wie ihr erst durch dieses Malheur klar geworden sei, dass sie noch viel zu rekonvaleszent sei für eine solche Reise und bat sie um Entschuldigung.
    Nach diesem Gespräch war sie erschöpft, aber auch erleichtert, als hätte sie geschenkte Zeit vor sich, legte sich nochmals etwas hin, ohne einzuschlafen, und ging dann in die Küche, um sich ein Essen zuzubereiten. Da sie sich auf eine zweiwöchige Abwesenheit eingestellt hatte, war nichts Frisches mehr da, und sie machte sich einen Teller Makkaroni mit einer Sauce aus der Büchse, öffnete dazu auch ein Zweideziliterfläschchen Chianti. Der war eigentlich als Kochwein vorgesehen, aber sie hatte Lust auf einen Hauch von Italien,

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