Gleis 4: Roman (German Edition)
lassen. Einen Pass könne ich mir bestimmt beim Schweizer Konsulat besorgen, und bei guter Arbeit und gutem Leumund werde ich mich in ein paar Jahren einbürgern lassen können.
Allerdings mied ich das Schweizer Konsulat ebenso wie die Hafenimmigration. Doch ich bekam tatsächlich eine Stelle als Hilfsmechaniker bei der St.Lawrence-Passagierschiffahrt. Bald hatte ich einen entsprechenden Ausweis samt einem Foto, und lebte, wenn ich nicht unterwegs war, mit andern zusammen in einer Baracke der Schiffahrtsgesellschaft. Wie legal oder wie illegal oder halblegal das war, war mir nicht klar. Von meinem Lohn wurde jedenfalls etwas für die Pensionskasse abgezogen, für die ich ebenfalls einen Ausweis bekam. Überhaupt sammelte ich soviele Ausweise und Arbeitszeugnisse, wie es mir möglich war. Ich machte auch zusätzliche Kurse und Ausbildungen in Schiffahrtstechnik. Ich schloss immer sehr gut ab. Mit all diesen Dokumenten, die ich zu meinem Geburtsschein legte, gelang es mir Anfang der sechziger Jahre, als Kanada noch ein wirkliches Einwandererland auf der Suche nach guten Arbeitskräften war, kanadischer Staatsbürger zu werden, ohne dass die Schweiz mit ins Spiel kam. Auch meinen Namen konnte ich bei dieser Gelegenheit mit wenig Formalitäten der neuen Heimat anpassen. Ich nannte mich nun Martin Blancpain.
Im Lauf der Jahre stieg ich zum Kapitän auf. Ich unternahm keinen Versuch, mit der Schweiz wieder in Kontakt zu treten. Ich hatte mich ja von dort mit einer Reihe ungesetzlicher Handlungen verabschiedet.
Einmal jedoch war eine Reisegruppe der Kirchgemeinde Uster auf dem St.Lawrence River unterwegs und bat mich, wie das gelegentlich vorkommt, eine Postkarte als Kapitän zu unterschreiben. Da sah ich, dass diese an Elsa Schwegler in Uster gerichtet war. Ohne meine Schweizerdeutschkenntnisse zu verraten, fragte ich scherzhaft, wie es denn Madame Elsa gehe, worauf man mir sagte, sie sei krank geworden, sonst wäre sie auch mit auf die Reise gekommen. Darauf legte ich die Hand an meine Mütze und sagte, »Alors, saluez Madame Schwegler de ma part!«, und das versprach man mir.
Nach ein paar Tagen fragte ich bei der internationalen Telefonauskunft nach und rief Tante Elsa an. Sie glaubte zuerst an einen Scherz, aber dann erkannte sie meine Stimme wieder. Ich erzählte ihr, wie es mir seit meiner Flucht ergangen war und fragte sie dann, ob sie die wahre Geschichte des Unglücks am Mythen je weitererzählt habe. Elsa verneinte und sagte, für ihre Schwester wäre es furchtbar, wenn sie wüsste, dass einer ihrer Söhne am Tod ihres Mannes schuld sein könnte. Ich bat sie, dies auch weiterhin für sich zu behalten. Auch solle sie bitte niemandem sagen, dass es mich noch gebe.
Seit da rufe ich sie jedes Jahr einmal an. Sie hat bald darauf geheiratet, einen Witwer aus Zürich. Sie ist meine einzige Verbindung zum Land, aus dem ich herkomme.
Montréal, 14.Juni 1977
Nachtrag 22. Sept. 2012
Heute Nacht um 3h hat mich Tanti angerufen. Mathilde Meier ist gestorben. Die Beerdigung ist nächsten Mittwoch in Zürich.
Ich kann nicht mehr einschlafen.
Wenn ich da hingehe, kann ich Tanti noch einmal sehen.
Konrad und Alfons leben noch.
Ich muss mit ihnen über die Vergangenheit reden.
Isabelle legte das Heft hin und blickte zum Fenster hinaus zu den Hochhäusern, über welche ein Herbststurm dicke Wolken trieb.
Sie würde das Heft für Véronique übersetzen, selber, Satz für Satz. Und dann würde sie das hinzufügen, was sie seither noch erfahren hatte.
Sie hatte Martins Mutter nochmals besucht und sie nach dem Namen des Bauern gefragt, der ihr damals das Kind gemacht hatte.
»Meier«, sagte sie, »Christian Meier in Uster.«
Anna-Maria Berthod-Wyssbrod war inzwischen umgezogen, in ein Einzelzimmer mit Blick auf den See. Ja, sagte sie, das habe sie verlangt. Damit sie sehe, wenn Marcel, der Kapitän, mit seinem Schiff komme, um sie abzuholen.
1. Auflage
© 2013 Luchterhand Literaturverlag, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-641-11210-3
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