Gletscherkalt - Alpen-Krimi
er
überhaupt nicht – und genoss ihn dennoch, bot er doch die für ihn seltene
Gelegenheit, einen Mädchenkörper so dicht an seinem zu spüren. Er roch das Haar
des Mädchens und einen Hauch von Parfüm und den Schweiß in den Achseln. Ellis
Brüste streiften seinen Oberarm, ihr harter Blick traf den seinen – die
unattraktive Elli erregte ihn und war doch unerreichbar.
Spiss’ nur Momente währende Träumerei ließ ihn
die nötige Achtsamkeit vergessen. Im selben Augenblick, da sein Auto ins
Schlingern geriet, war ihm klar, dass mit Glatteisgefahr zu rechnen gewesen
wäre, wie der Grenzer es gesagt hatte. Er erfasste in aller Deutlichkeit, worin
sein Fehler lag. Und er erkannte, dass er die Herrschaft über sein Fahrzeug
verloren hatte. Über sein Fahrzeug und auch über sein und Carlas Leben.
*
Tinhofer fuhr vorsichtig in jene
Kurvenabfolge ein, von der er nicht wusste, dass Spiss sie nach einer
Skirennfahrerin benannt hatte. Er fuhr höchstens fünfzig, meist sogar noch
langsamer. Ein gutes Stück vor ihm, einige sanfte Biegungen weiter, sah er die
Rücklichter des von ihm observierten Autos. Und er merkte, dass irgendetwas
nicht stimmte.
Er sah für den Bruchteil einer Sekunde Funken
aufsprühen, sah Bremslichter aufleuchten, sah dann die Lichter ihre Richtung
verlieren, schlingernd über die Straße tanzen. Keine Frage: Spiss’ Wagen
schleuderte, stieß rechts gegen die Leitplanken, wurde zurückkatapultiert und
rammte auf der anderen Seite die Felsen, die hier die Fahrbahn begrenzten.
Tinhofer verlor das erschreckende Schauspiel in
der nächsten Biegung aus den Augen. Doch danach war er dem außer Kontrolle
geratenen Wagen näher gekommen, sah mit noch größerer Deutlichkeit, was da vor
ihm geschah. Und sogar die Insassen des Wagens meinte er erkennen zu können:
Spiss, den Fahrer, und den Kopf des Mädchens, der hin und her gewirbelt zu
werden schien.
Später hätte er nicht sagen können, was Realität und
was Einbildung gewesen war. Später war nur mehr Chaos in seinem Kopf, Bilder
zerborstenen Metalls, zersplitternden Glases, verdrehter Gliedmaßen und von
Blut, Blut, Blut.
Er sah das Auto nicht abstürzen. Er merkte nur,
dass die Lichter plötzlich verschwunden waren. Hinter einer weiteren Kurve?
Tinhofer fuhr, die Glatteisgefahr höchst vorsichtig beachtend, weiter, hielt
Ausschau nach dem Wagen, nach den roten Lichtern, die wie zwei glühende
Pupillen in die Nacht geleuchtet hatten.
Zugleich suchte er im Licht der eigenen
Scheinwerfer nach Spuren des Crashs, der sich vor wenigen Sekunden hier
ereignet haben musste. In Schrittgeschwindigkeit fuhr er durch die letzte
Kurve. Und da wurde er fündig: Am Gestein linker Hand war eine lange weiße
Kratzspur. Und gleich danach knirschten seine Reifen über Glas. Hier musste es
passiert sein. Aber wo war das Auto? Wo war Spiss? Wo war das Mädchen?
Die Antwort fand sich fünfzig Meter weiter
talwärts – da war neben der Straße ein diffuses Licht, rechts, dort, wo es
steil bergab ging.
Tinhofer hörte sein Herz schlagen. Er biss die
Zähne aufeinander und umfasste das Lenkrad ganz fest. Es war etwas passiert,
etwas Schlimmes, dessen war er sich bewusst. Das Auto musste von der Straße
abgekommen und über den Abhang hinabgestürzt sein. Es war nur noch die Frage,
wie weit.
Und da war noch eine andere Frage: Was würde er
dort vorfinden? Schwerverletzte? Tote?
Verdammt noch mal, dachte er, und er spürte, dass
sein Atem gepresst kam. Verdammt noch mal, ich will damit nichts zu tun haben.
Er war schon bei zahllosen Unfällen als Fotograf
vor Ort gewesen. Frontalzusammenstöße von Autos, schwer gestürzte
Motorradfahrer, ein Eisenbahnunglück. Und einmal war er zu einem
Flugzeugunglück gerufen worden. Eine zweimotorige Maschine war abgestürzt und
dabei auseinandergebrochen. Wie schrecklich das alles auch gewesen sein mochte:
Er hatte es immer nur als Fotograf gesehen, immer nur durch die Kamera
wahrgenommen. Und ihm war so gewesen, als hätte er mit jedem Druck auf den
Auslöser die fürchterlichen Bilder gleichsam auf Film gebannt und gar nicht
erst vordringen lassen bis in seine Seele und seine Gedanken.
Das Wichtigste dabei aber war stets, dass er
nicht der Erste an einem Unfallort zu sein brauchte. Rettungskräfte, Polizei,
Feuerwehr – alle waren bereits vor ihm da und hatten das Nötige veranlasst. Nie
war er in die Verlegenheit gekommen, Ersthilfe leisten zu müssen. Nie hatte er
einen verletzten Menschen anfassen müssen. Nie waren
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