Glutroter Mond
Anzüge.
Meine Individuennummer lautet 4-19. Wir wohnen im neunzehnten Bezirk, die Nummer vier habe ich erhalten, weil sie durch einen Todesfall in der Kommune im Häuserblock westlich von uns wieder frei geworden ist, kurz nachdem ich geboren wurde. Die Obersten nummerieren uns alle durch, aber manchmal werden Ziffern auch neu besetzt. Sie mögen es nicht, wenn die Zahlen zu groß werden. Sie wollen immer wissen, wie viele Einwohner in einem Bezirk leben, deshalb vermeiden sie Lücken in der Nummerierung.
Ich entschließe mich, einen frischen Anzug anzuziehen. Ich habe noch drei saubere. Das reicht für vier Tage. Normalerweise mache ich mich nicht oft schmutzig. Neal bekommt mehr Anzüge als ich, weil er durch seinen Job mehr verschleißt. In seinem Schrank hängen mindestens zehn blaue Einheitsanzüge. Sie sind viel größer als meine, weil er so breite Schultern hat.
Ich schlüpfe aus dem verschmutzten Anzug, er gleitet lautlos zu Boden. Der Stoff ist sehr reißfest und leicht, man schwitzt darin nicht. Für den Winter bekomme ich einen langen gelben Mantel desselben Farbtons, der mich warm hält, aber jetzt ist Sommer.
Ich lege den getragenen Anzug in die gelbe Plastikkiste, die mit meiner Individuennummer beschriftet ist. Am Samstag werde ich sie mit einem Deckel verschließen und zur Brücke bringen.
In meinem frischen Anzug fühle ich mich direkt wohler. Ich hätte duschen gehen sollen, aber dazu hätte ich vor dem Essen keine Zeit mehr gefunden. Das Badehaus befindet sich drei Blocks nördlich von hier, es schließt um halb sieben am Abend. Ich frage mich, ob mein Gesicht ebenfalls schmutzig ist. Ich besitze keinen Spiegel. Im Badehaus gibt es einen, doch das Gedränge davor ist mir immer unangenehm. Meist begnüge ich mich mit einem Blick in den Eimer, der hinten im Hof steht. Darin sammeln wir Regenwasser. Ich bin selbst auf die Idee gekommen, sich diesen Ersatzspiegel zuzulegen. Meist nutzt ihn jedoch Suzie, weil sie sehr eitel ist.
Ich binde mir meine störrischen braunen Locken zurück, weil ich es nicht mag, wenn meine Haare offen auf meine Schultern herabhängen. Sie kitzeln so schrecklich im Gesicht.
Ich sehe wieder auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Wir müssen los. In diesem Moment klopft es an meiner Tür.
»Holly, wir gehen zum Essen!«, ruft Carl von draußen.
»Ja, ich komme!«
Ich öffne die Tür und trete auf den Flur neben Carl. Auch er trägt einen frischen blauen Einheitsanzug, der angenehm duftet.
Ich folge ihm die Treppe hinunter. Unten warten bereits die anderen. Gemeinsam treten wir auf die Straße hinaus und machen uns auf den Weg nach Norden, die breite Hauptstraße entlang, die unsere Stadt von Norden nach Süden durchzieht und sie in die West Side und die East Side trennt. Es ist ein Fußweg von über einer halben Stunde. Neal legt einen Arm um meine Schultern. Ich fühle mich geschmeichelt, weil ich weiß, dass er mich beschützen will.
Zu den Mahlzeiten begegnet man den meisten Menschen. Das ist die Zeit, in der mir bewusst wird, wie viele Einwohner unsere Stadt hat. Die Menge drängt nach Norden: Frauen, Männer, Greise, Kinder. Ich kenne die meisten von ihnen, wenn auch nur vom Sehen. Gesprochen habe ich noch nicht mit vielen. Unsere nächsten Nachbarn wohnen einen ganzen Block weiter westlich. Ich habe Neal einmal gefragt, wie viele Menschen die Stadt insgesamt zählt. Er meinte, es seien mehr als zehntausend. Das ist eine beachtliche Zahl, die ich mir gar nicht vorstellen kann. Wenn es aber stimmt, dass die Menschen der alten Welt sogar die Häuserriesen im Süden einst bewohnt hatten, müssen es mindestens tausend Mal so viele gewesen sein. Bei dem Gedanken läuft mir ein Schauder über den Rücken.
Wir laufen schweigend nebeneinander her. Um mich herum unterhalten sich andere Leute, manche lachen. Mir wird warm ums Herz, wenn jemand lacht, das höre ich so selten. Am liebsten mag ich es, wenn Kinder lachen. Ich komme nicht mit vielen in Kontakt. Sie tragen bis zu ihrem zwölften Lebensjahr grüne Anzüge, egal ob Junge oder Mädchen. Nicht alle Einwohner leben - so wie ich - in einer Kommune, manche leben in richtigen Familien. Ich habe keine Familie, nur Carl und die anderen. Wir haben nur einander, und manchmal macht mich das traurig. Wir sind alle Waisen oder aus einem anderen Grund allein. Carl sagt, er habe einmal eine Familie gehabt, aber sie seien alle entweder früh gestorben oder die Obersten hätten sie in ihre Reihen rekrutiert. Darüber darf man
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