Godspeed Bd. 1 - Die Reise beginnt
ich das alles absolut toll gefunden.
Jetzt fläze ich mich auf meinem Stuhl. Es wundert mich nicht, dass der Älteste keine Lust hatte, mich zu unterrichten – anscheinend habe ich nie kapiert, was er mir mit seinen Lektionen wirklich beibringen wollte.
»Die zweite Ursache für Unfrieden«, fährt der Älteste fort, »ist das Fehlen eines starken Anführers.«
Er beugt sich vor und streckt mir seine knochigen, faltigen Hände entgegen. »Verstehst du, wie wichtig das ist?«, fragt er und schaut mich mit trüben Augen an. Sie sind ganz wässrig, was entweder am Alter oder an etwas anderem liegt.
Ich nicke.
»Verstehst du es wirklich?«, fragt er eindringlich und drückt meine Hände so fest, dass ein paar meiner Knöchel knacken.
Ich nicke wieder und schaffe es nicht, mich aus seinem Blick zu befreien.
»Was ist die größte Gefahr für das Schiff?« Seine Stimme ist jetzt nur noch ein krächzendes Flüstern.
Äh. Vielleicht habe ich es doch nicht verstanden. Der Älteste starrt mich an und erwartet eine Antwort. Ich starre zurück.
» Meuterei . Es ist Meuterei , Junior. Sie ist eine schlimmere Bedrohung als technische Fehlfunktionen oder Gefahren von außen. Deswegen wurde nach der Seuche das System mit den Ältesten eingeführt. Dabei übernimmt ein Mann, der vor den Menschen geboren wurde, die er anführen wird, die Rolle als Patriarch und Kommandant derer, die nach ihm kommen. Auch du wirst eines Tages ein Ältester sein. Du musst dieser starke Anführer sein, der verhindert, dass Unfrieden entsteht, und der jeden Menschen auf diesem Schiff beschützt.«
5
Amy
Ich bin still wie der Tod.
Mach das mal: Geh in dein Zimmer. Dein schönes, sicheres, warmes Zimmer, das kein Glassarg in einer Gruft ist. Leg dich auf dein Bett, das nicht aus Eis besteht. Steck dir die Finger in die Ohren. Hörst du das? Den Puls des Lebens von deinem Herzen, das langsame Ein- und Ausatmen? Sogar, wenn du ganz still bist und alle Geräusche ausblendest, ist in deinem Körper ein lärmendes Durcheinander des Lebens. In meinem nicht. Es ist die Stille, die mich verrückt macht. Die Stille, von der ich Albträume bekomme.
Vielleicht bin ich schon tot? Wie kann jemand ohne ein schlagendes Herz, ohne arbeitende Lunge so leben, wie ich es tue? Ich muss tot sein. Und das ist meine größte Angst: Wenn die nach dreihundertundein Jahren meinen Körper auftauen lassen wie ein tiefgekühltes Hühnchen, dass ich dann genauso bleibe, wie ich jetzt bin. Ich werde für alle Zeiten in meinem toten Körper festsitzen. Ich werde für immer in mir eingesperrt bleiben.
Am liebsten würde ich schreien. Ich will die Augen aufreißen und aufwachen und nicht länger mit mir allein sein, aber ich kann es nicht.
Ich kann es nicht.
6
Junior
»Und was ist die dritte Ursache für Unfrieden?«, frage ich den Ältesten, als die Stille im Lernzentrum unerträglich wird.
Er mustert mich. Einen Moment lang blitzen seine trüben Augen wütend auf, und ich rechne schon damit, dass er mich schlagen wird. Aber nachdem ich einmal geblinzelt habe, ist das komische Gefühl verflogen. Der Älteste legt beide Hände auf seine Knie und stemmt sich mühsam hoch. Das Lernzentrum ist klein, und wenn der Älteste steht, kommt es einem geradezu winzig vor. Der Stuhl, den er zurückgeschoben hat, stößt gegen die Wand, und der Tisch zwischen uns erscheint mir wie eine tiefe Schlucht. Der verblasste Globus der Sol-Erde hinter ihm wirkt wie eine Miniatur, noch kleiner und unbedeutender als ich.
»Ich habe dir genug erzählt«, sagt er auf dem Weg zur Tür. »Und ich habe zu arbeiten. Ich will, dass du ins Archiv gehst und recherchierst, warum auf der Sol-Erde so viel Unfrieden geherrscht hat. Du kennst bereits die ersten beiden Ursachen für ihre vielen Kriege; du müsstest auch die dritte herausfinden können. Es ist nicht schwer, wenn du dir die Geschichte der Sol-Erde ansiehst.«
Das ist eine Herausforderung, das erkenne sogar ich. Der Älteste stellt meine Führungsqualitäten auf die Probe. Er will herausfinden, ob ich würdig bin, in seine Fußstapfen zu treten und der nächste Älteste zu werden. Das macht er ziemlich oft. Der Junior, der vor mir Ältester werden sollte, ist zwar schon vor langer Zeit gestorben, doch der Älteste hat ihn nicht gemocht. Er spricht aber meistens nur von ihm, wenn er mich mit ihm vergleicht. Und diese Vergleiche sind nie positiv. »Du bist genauso langsam wie er«, würde der Älteste zum Beispiel sagen. »Diese dumme Idee
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