Golem stiller Bruder
weg aus Prag«, sagte Jankel. »Morgen früh werde ich Prag verlassen.«
Rochele schaute ihn mit ihren Taubenaugen erschrocken an. »Und ich?«, fragte sie. »Was ist mit mir?«
»Du bleibst bei Frume«, sagte er. »Und ich werde dich oft besuchen.«
Rochele senkte den Kopf. Sie nahm einen trockenen Zweig und malte Kreise und Striche ins Wasser, Bilder, die sofort von den trägen Wellen gelöscht wurden. Eine ganze Weile schwieg sie, dann sagte sie: »Aber es könnte sein, dass du nie mehr zurückkommst, so wie unser Vater nicht zurückgekommen ist.« Ihre Stimme klang auf einmal gar nicht mehr kindlich, sondern fast erwachsen.
Jankel zögerte, er wusste nicht, was er sagen konnte. Dann beschloss er, aufrichtig zu sein. »Ja«, sagte er, »das könnte sein, die Zukunft ist unseren Augen verborgen. Aber ich habe fest vor, wiederzukommen, und ich werde den Ewigen, gelobt sei er, bitten, dass er mir die Möglichkeit gibt, mein Vorhaben auszuführen. Ich werde immer wieder nach Prag kommen, um dich zu besuchen. Sonst aber möchte ich herumziehen und den Menschen Geschichten erzählen, verstehst du?«
»So wie früher?«, fragte Rochele. »Weißt du noch, dass du mir früher immer Geschichten erzählt hast?«
»Ja«, sagte Jankel. »So wie früher.«
Er schwieg und seine kleine Schwester schwieg auch. Bis Jankel aufstand und sagte: »Jetzt komm, Rochele, ich bringe dich nach Hause.«
Hand in Hand betraten sie die Judenstadt, die im Schabbatfrieden vor ihnen lag. Als sie am Friedhof vorbeikamen, hörten sie das Krächzen von Krähen und Jankel lief ein Schauer über den Rücken, aber es dauerte nur einen Moment, da war es auch schon wieder vorbei.
A n diesem Abend lag ich lange wach. Am nächsten Tag würde ich weggehen, jetzt war ich mir ganz sicher. In meinem Herzen kämpfte die Sehnsucht nach Neuem mit der Angst vor dem, was mir geschehen könnte. Dann, als ich endlich einschlief, hatte ich einen Traum. Ich ging eine Straße entlang, die in der Sonne lag, und am Horizont erstreckte sich ein Wald. Ich wusste, dass ich den Wald durchqueren musste, und die Angst brachte mich dazu, immer langsamer zu gehen. Auf einmal hörte ich Schritte neben mir, und als ich den Kopf wandte, sah ich, dass Schmulik an meiner Seite ging. »Du bist zurückgekommen?«, fragte ich erstaunt und er sagte: »Ja, natürlich bin ich zurückgekommen. Du hast doch nicht im Ernst geglaubt, dass ich dich allein gehen lassen würde.« Seine Stimme klang so selbstverständlich und so vorwurfsvoll, dass ich lachen musste.
Und auch als ich aufwachte, lachte ich noch und meine Angst war verflogen.
Glossar
Bar Mizwa: (hebr.: Sohn des Gesetzes) Ein jüdischer Junge wird an seinem dreizehnten Geburtstag Bar Mizwa. Das bedeutet, dass er nun religionsmündig geworden ist und die religiösen Gebote und Pflichten einhalten muss. Der Tag wird groß gefeiert, der Junge bekommt Geschenke. Das Fest findet teils in der Synagoge, teils zu Hause statt. (Die entsprechende Bezeichnung für religionsmündige Mädchen lautet Bat Mizwa.)
Bessamim: (hebr.: Wohlgerüche, Gewürze) siehe Hawdala.
Bocher: (von hebr.: Bachur) Jüngling, junger Mann.
Chanukka: ein achttägiges Lichterfest (meist im Dezember), das zur Erinnerung an die Tempelweihe nach dem Sieg der Makkabäer über die Römer gefeiert wird. Als Judas der Makkabäer den Tempel zurückerobert hatte, geschah ein Wunder. Der Vorrat an geweihtem Öl, der nur für einen Tag gereicht hätte, reichte für acht Tage. Deshalb wird von dem achtflammigen Chanukkaleuchter nach Einbruch der Dunkelheit täglich ein Licht mehr angezündet.
Dibbuk: (nach kabbalistischer Vorstellung) der Geist eines Toten, der in den Körper eines Lebenden fährt.
Elijahu: jüdischer Name des Propheten Elias.
Galut: Zerstreuung der Juden über die ganze Welt.
Hawdala: (hebr.: Unterscheidung) Bezeichnung für die Zeremonie am Ausgang des Schabbats und an Festtagen, die in der Synagoge und zu Hause stattfindet. Man unterscheidet den Festtag zu Ehren Gottes von dem profanen Alltag. Dabei wird die Bessamimbüchse geschwenkt, die wohlriechende Gewürze enthält.
Jeled: hebr.: Knabe, Kind.
Jom Kippur: der heiligste Tag des jüdisch-religiösen Jahres und zugleich der ernste, weihevolle Abschluss der zehn Bußtage, die am jüdischen Neujahrsfest (September/Oktober) beginnen. Der Jom Kippur wird mit strengem Fasten und Gebeten verbracht. Er soll durch aufrichtige Reue und Läuterung die Versöhnung mit Gott bewirken.
Kabbala: (hebr.:
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