Die Schatten von La Rochelle
PROLOG
Herbst 1640
Es war noch dunkel, als sie sich erhob. Sie m achte sich nicht die Mühe, nach der Kerze zu taste n , bevor sie aufstand, den Ra u m durchquerte und zu dem Tisch ging, wo die W a s chschüssel stand. Da sie in der Nacht nicht sehr viel geschlafen und die letzten Stunden da m it verbracht hatte, auf das Anb r echen des Tages zu warten, waren ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt.
Ihre Haut zog sich unwillkürlich zusammen, als sie die dünn gefrorene Oberfläche des Wassers durchstieß. Es war noch Nove m ber, doch der W i nter hatte bereits Einzug gehalten. Unwillkürlich erinnerte sie sich an ein Jahr, in dem d e r Frost ähnlich früh gekom m en war, an einen anderen November, der zwanzig Jahre zurück la g : den Nove m ber, in dem sie geheiratet hatte. Sie holte kurz Luft und tauchte ihr Gesic h t vollständig in das W asser. Sie hatte nicht die Absicht, sich jetzt an ihre kurze, verhaßte Ehe zu erinnern, da die Gegenwart ohnehin genug Proble m e bereithielt. Außerdem schienen jenes sechzehnjährige Mädchen, deren Furcht und deren Zorn einem a nderen Leben anzugehören.
Es war besser, an alltägliche Ärger n isse wie den U m stand zu denken, daß sie noch keinen Ersatz f ü r ihre entlassene Zofe gefunden hatte. All e r d ings war ihr das g e leg e ntlich sogar angeneh m . Es dauerte gewiß lä n ger, sich allein anzuklei d en, aber auf diese Art k o nnte sie sich auf die Ereignisse des k o mmenden Tages konzentrieren und noch m als in Gedanken die Dinge durchgehen, die es zu erledigen galt.
Vom gestrigen Tag war noch eine Menge Korrespondenz übriggeblieben, zu m eist Brie f e von Verw a ndten, die sich m it der baldigen Hochzeit ihrer Cousine beschäfti g ten und deren Beantwortung sich noch eine Weile hinausschieben ließ. Die m o natliche Abrechnung der Sieurs T alle m ant und R a m bouillet über die finanziellen Einlagen ihres Onkels, die sie heute erwar t ete, war d ringlicher; a u ßerdem mußte sie die Doku m ente der Gesell s chaft, die s i e in Neufrankreich gründen wollte, noch ein m al durchgehen.
Sie zögerte kurz, als sie ihr Leibchen verschnürte. Es war seltsa m , wie e m p f indlich ihr Kö r per in der l e tzten Z e it zu sein sc h ie n ; ihr kam es vor, als n eh m e sie alles i n tensi v er wahr, den Druck des S toffes auf ihrer Haut, das streichelnde Gefühl der Seide, als s ie in i h r He m d schlüpfte. E s war nicht unangen e hm, aber es v erwirrte sie.
Entschlos s en ric h tete sie ihre Gedanken wieder auf die Liste der zu erledigenden Dinge, die sie sich erstellt hatte. Es war nötig, den Louvre zu besuchen, da die Königin heute ihre zwei m onatige Klausur, in die sie s ich t ra ditio n eller w eise nach d er Gebu r t d es neuen Prinzen hatte begeben müssen, beendete und ihren ersten großen E m pfang g a b. Nicht zu erscheinen hätte den Feinden ihres Onkels nur eine weitere Angriffsfläche geboten. Sie erinnerte sich noch zu gut an ihre Zeit als Hofda m e der K önigin m utter, als sie ständig das Gefühl gehabt hatte, jede ihrer Handlungen würde auf einen unentschuldbaren faux pas hin belauert.
Sie seufzte; das würde die Zeit für den Besuch im Hôtel-Dieu knapp werden lassen, aber sie hatte es d e m Gründer des Hospitals, Monsieur Vincent de Paul, versprochen. Inzwischen war sie auch m i t der Verschnürung ihres Kleides fertig und entzündete den Docht der La m pe an ihrem Frisiertisch, um sich das Haar richten zu können. Sie war nicht eitel, aber der m a ngelnde Schlaf der letzten Nacht schien sich doch be m e r kbar zu m achen, denn sie schaute länger in den Spiegel, als es notwendig gewesen wäre. Es gab Augenblicke, in denen sie nicht glauben konnte, daß das ruhige Oval m it den dunklen Augen ihr e r Fa m ilie i h r selb s t geh ö rte, w e il es so wenig v o n de m , was sie bes c hä f tigte, re fl ekti e rte.
Heute war das nicht der Fall. Der Blick in den Spiegel zeigte ihr zu ihrem Ärger den verstörten, angespannten A usdruck des jungen Mädchens, das sich heute schon zum zweiten Mal aus dem Gefängnis der Vergangenheit rührte, wo s i e es eigentlich eingesperrt hatte. Sie runzelte die Stirn; vielleicht sollte sie diese Anwandlungen nic h t einfach ignorieren, sondern darüber nachdenken, was sie bedeuteten. In der letzten Zeit war es hin und wieder vorgekom m en, daß sie ohne jeden Grund plötzlich z u sam m enzu c kte und dachte: Gefahr!
Für was, für wen? Es war ein unlogischer Gedanke, genauso unlogisch wie das
Weitere Kostenlose Bücher