Gott Braucht Dich Nicht
Ich war allein. Meine Eltern und Geschwister saßen im Restaurant hinter der Mauer, die an die Strandpromenade grenzte, auf der ich stand. Mein Vater war Außenhandelskaufmann, weswegen er geschäftlich in der ganzen Welt zu tun hatte. Er nahm uns oft mit. Die ganze Familie. Wir Kinder mussten bei manchen Geschäftsessen dabei sein und uns mit den Kindern der Geschäftsfreunde vertragen. Wir waren dann sehr höflich und vorsichtig miteinander und brachten uns gegenseitig bei, was Tisch, Serviette, Kellner, Messer, Gabel, Löffel, Fisch, Garnele und Eis in der jeweiligen Sprache heißt – auch wenn wir es noch vom letzten Essen wussten. Ich mochte den Geruch von den Haaren der spanischen Mädchen, das stimmte mich immer sehr feierlich. An jenem Abend war der Kunde ein guter Freund meines Vaters. Seine beiden Söhne kannte ich schon, sie waren viel älter als ich und mittlerweile in das Gespräch der Eltern auf Englisch vertieft. Steffi und Johannes löffelten noch ihr Eis aus Kokosnusshälften. Ich wollte keins. Und mir war langweilig.
«Gehst nicht zu weit, Estherle», hatte mein Vater zu mir gesagt, als ich neben ihm stand und über seine Krawatte streichelte, um zu fragen, ob ich aufstehen dürfe. «Nee. Nur ’n bisschen raus.»
Der Geschäftsfreund hatte mich angesehen, wie sie einen immer als Kind ansahen, wenn man auf Deutsch mit den Eltern sprach. Fragend, amüsiert, und gleich würde er zu Papa auf Englisch was Nettes über mich sagen. Das wusste ich schon. Ich grinste verlegen, geschmeichelt von so viel Aufmerksamkeit. Er zwinkerte. Ich versuchte, zurückzuzwinkern. Es klappte nicht. Nicht mit einem Auge.
Eben am Tisch war mir auf einmal das Meer eingefallen, das die ganze Zeit hinter der Mauer lag. Ich wollte sehen, was es alleine macht, ohne Badegäste, nachts, und ging durch den schmalen Gang aus Tischen, an der Glasvitrine mit den Eiswürfeln und den riesigen glotzenden Fischen vorbei, zu der Schwingtür am Eingang des Restaurants. Auf. Raus ins orangefarbene Licht der Straßenlaterne, rechts um die Ecke auf die Promenade, und da lag schwarz und weit das Meer. Die Promenade war erhoben, etwa drei Meter über dem breiten Strand. Große Sandsteine bildeten ihr Geländer und ragten über den dunklen Sand da unten. Den roch ich. Ich ging ein Stückchen, so weit, dass mich kein Laternenlicht mehr berührte.
Das Meer vor mir endete nicht in meinen rechten und linken Augenwinkeln. So weit war der Strand. Ich spazierte zu den Steinen, die mir bis zum Bauchnabel gingen, kletterte hinauf, ließ die Beine vorne runterbaumeln. Der Stein war warm. Aus dem Restaurant kam noch leise gedämpfte Musik. Spanische Musik und spanische Stimmen von Menschen, die erst um halb elf abends essen gehen.
Ich sah die großen Wellen in der Dunkelheit nur unscharf, aber ich hörte, wie sie in etwa hundert Metern Entfernung langsam gegen den Strand schnauften, sich in den Sand wälzten und dann wieder scharf die Luft einsogen, durch gespitzte Lippen. So klang das. Es gab kein Licht, nur den Mond auf dem Wasser, sehr weit hinten. Ich summte mich an den Ton vom Wellengeräusch heran und schaute auf die weite Fläche bis zu dem schmalen Streifen, weit weg, wo das Glänzen des Wassers endete und das Dunkel des Himmels begann. All. Ich weiß nicht, ob ich den Namen schon kannte. Während ich schaute, begann die Tiefe des Himmels, die sich durch die einzelnen Sterne darin andeutete, zu wachsen. Ich kannte nichts von dem. Die Wellen des Meeres wurden nicht leiser, aber das Rauschen nahm eine andere Richtung. Es führte nicht zu mir, zu meinem kleinen Platz auf den Steinen, sondern hinaus in die Weite. Die Felsen und das Meer, der Glanz auf der Wasserfläche, die Sterne und was hinter mir war, all dies lag dem zu Füßen, was aus der neuen Tiefe des Himmels sich beugte.
Ich fühlte mich wie ein unbeobachteter Teil dessen und fand es schön, und wartete und schaute, und hatte keine Ahnung, was eigentlich gerade geschah.
In mir, ohne Konsonanten, ohne Vokale – mein Name.
Die Welt trat nicht zurück, aber ich trat aus ihr hervor. Mitten aus der Nacht, weil mein Name in mir nachklang. Die ganze Zeit. In einer Weise, in der ich nicht sprach.
Darin lag ein Ernst, liebevoll und gleichzeitig unbedingt. Kein Erwachsener hätte ein Kind je so angesehen. In dem Blick lag etwas, ich weiß nicht, wie man das beschreibt, etwas Aufrichtendes, was mir das Gefühl gab, mich selbst ernst nehmen zu müssen. Ein Wissen um mich, das ich nicht
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