Gott Braucht Dich Nicht
schimpfte über die Habgier, und es kam mir jedes Mal blöder vor, in der Messe zu sitzen, das Nicken der Gemeindehäupter zu sehen und mich zu fragen: «Wenn hier eh alle einer Meinung sind, warum müssen sie es sich dann jeden Sonntag wiederholen lassen?»
Ich litt nicht unter Demut gegenüber Gott. Demut ist ein schönes Gefühl, demütig ist man vor den Dingen, die größer und schöner sind als man selbst, vor denen wird man gerne still, vor denen ist man glücklich, einfach nur sein zu dürfen.
Demut war es nicht. Alles, was Gott offenbar von mir wollte, war unmöglich. Ich hatte keine Telefonnummer von Bundeskanzler Kohl.
Und das nehme ich der Kirche übel. Dass sie mir das Gefühl gab, das Leben eines engagierten, durchschnittsgrünen Gymnasiallehrers führen zu müssen oder das eines adretten Backfischs aus den siebziger Jahren, der anfängt zu kichern, wenn er das Wort «schmusen» hört, und dessen einzige gern gesehene rebellische Jugendlichkeit darin besteht, «Kumbaya my Lord» an Lagerfeuern zu singen.
Ich hatte Gott nicht so spießig kennengelernt. Ich hatte zwar keine Ahnung, was er wollte, aber er interessierte mich einfach, irgendwas band mich an ihn. Sein Gottsein. Seine Wirklichkeit. Aber was ich von ihm hörte, machte ihn zum Spießer, zum Moralapostel, der sich zum Spaß ausgedacht hatte, dass man sonntags in die Kirche geht – warum? Keine Ahnung. Macht man so. Mein Verhältnis zu Gott wurde immer mehr wie ein ausgeleierter, bröseliger Kaugummi, auf dem zu viele rumgenuckelt hatten.
Es wurde gesagt, dass man seinen Nächsten lieben soll. Und dann wurde gefragt: «Aber wer ist unser Nächster, liebe Gemeinde? Wer ist der Nächste? Nun – das ist der Ausgegrenzte, der Bettler, der Aussätzige, die Prostituierte …»
Ich hatte noch nie im Leben eine Prostituierte gesehen, Bettler schon, aber nicht in unserer Stadt, und Aussatz, ich kannte wirklich niemanden, der das hatte. Der Nächste war immer sehr weit weg. Das mag praktisch sein für die, die dran gewöhnt sind, dass Gott eh nichts mit ihrem Alltag zu tun hat. Für mich war es das als Teenager nicht. Ich hatte eine Hoffnung und Ahnung, dass Gott zu dieser Welt hier gehört. Ich wollte ihm gefallen, weil ich ihn mochte, weil ich ihn wichtig fand. Aber ehrlich gesagt war ich mit vierzehn irgendwann auch so weit, dass ich wusste, es ist gut, zu meinen wirklichen Nächsten nett zu sein. Zu meinen Mitschülern und meinen Freundinnen, wenn es ihnen schlechtging; sie zu trösten und zu helfen, wenn ich das überhaupt konnte. Das brauchte ich mir echt nicht jeden Sonntag in der Kirche erklären lassen.
Und weil alles, was in den Predigten gesagt wurde, genauso, wenn auch mit anderen Worten, in Talkshows und sonst wo propagiert wurde, schlich sich leise, leise der Gedanke bei mir ein, dass es wirklich vollkommen überflüssig ist, sonntags in die Messe zu gehen. Moral gab es genug in der Welt. Die bekamen wir überall um die Ohren gepfeffert. Dass man sich um die Minderheiten kümmern muss, dass man sich um Schwache kümmern soll, dass Politiker schlechte Menschen sind. Dazu brauchte man nicht die Messe zu besuchen, da hatten die kleinen Atheisten meines Schuljahrganges schon recht. «Man kann auch ein guter Mensch sein, ohne an Gott zu glauben.» Das stimmte. Und man konnte in unserer Gesellschaft auch spießig sein, ohne in die Kirche zu gehen.
Während man im Fernsehen Frauen mit blau überschminkten Augenlidern und teilnahmslos wippenden Papageien in riesigen Ohrringen neben einer kurzen und einer langen Haarseite sah, die sich gegenseitig anschrien, dass wir es doch sind, «die die Welt kaputtmachen, der Mensch ist der Zerstörer, weg mit Tetrapak», konnte man in Predigten genau das Gleiche hören.
Ich wunderte mich darum auch oft, wogegen sich die Masse der Gesellschaft von der Kirche noch abgrenzte. Ich fand, es sei nur ein ganz kleiner Schritt zwischen Christen und dem Rest. Alle wollten die Umwelt retten. Alle wollten Toleranz gegenüber den anderen Religionen, alle wollten ein bisschen weniger Papst, alle wollten, dass die Kirche lockerer wird, allen kam es auf die «Menschlichkeit» an und so weiter. Und sogar manche Bilder, die im Schaukasten vor unserer kleinen Kirche hingen, sahen genauso aus wie die von der UNESCO oder ähnlichen Vereinigungen. Ein großer Erdball, Kinder bilden einen Kranz drum herum, alle haben unterschiedliche Hautfarben und fassen sich an den Händen – schön bunt. Solche Bilder kamen damals
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