Gott-Poker (German Edition)
vom Gesicht; er hält ihre Nase zu, presst seine Lippen auf ihre und lässt die frische Gartenluft in ihre Lungen strömen, sie saugt sie gierig ein und gibt ihm dann ihren Atem zurück, bis der Sauerstoff immer weniger wird und sie niedersinken, sie fallen in den Berg aus Fellen, der in der Mitte des Zimmers aufgetürmt ist und drücken sich gegenseitig die Kehlen zu, bis ich mich abwenden muss, hin zu Franziska und Sergej, die draußen unter den Kirschbäumen liegen und vom Gewicht ihrer Herzen in den Boden gedrückt werden, so lange und so tief, bis Sergej eine Handvoll Erde aufkratzt und sie über Franziska streut, eine zärtliche Geste, die beim Vergessen helfen soll, und ich muss mich abwenden, damit sie nicht sterben, an Schmerz oder Atemnot, zumindest nicht gleich.
What if you slept? And what if, in your sleep, you dreamed? And what if, in your dream, you went to heaven and there plucked a strange and beautiful flower? And what if, when you awoke, you had the flower in your hand? Aye, what then?
Samuel Taylor Coleridge
»Was ein echter Hasardeur ist«, sagte Maria und ließ die Beine über den Rand der Hängematte baumeln, die sie im Garten von Klaras Großeltern zwischen die Bäume gespannt hatten, »was ein echter Hasardeur ist, der gibt niemals auf. Hörst du, Klärchen, niemals.«
Klara lag unter dem Baum, in dem Maria hing, auf einer Decke, sie hatte in einem Buch gelesen und ihren kahlen Kopf gegen die Hi tze in ein Tuch gewickelt. Nackt in der Sonne liegend, hing sie Tagträumen nach, die sie weit weg, über die Ufer des Sees an sonnige Strände fremder Länder getragen hatten. Durch ihren Traum flatterte ein grünes Papierherz auf sie herab, ausgebleicht und an den Rändern von der Sonne versengt.
»Wir geben niemals auf, hörst du, Klara?«, wiederholte Marias tiefe Stimme über ihr und vermischte sich mit dem Meeresrauschen in ihrem Kopf.
»Was willst du denn aufgeben? Und was ist überhaupt ein Hasardeur?«, fragte Klara verschlafen.
Maria stöhnte und ließ ein Blatt auf Klara fallen. »Ein Spieler«, sagte sie gelangweilt, »ein Spieler, der ohne Rücksicht auf Verluste alles aufs Spiel setzt und keine Angst davor hat, zu verlieren.«
Klara stützte sich auf die Ellenbogen.
»Kennst du denn nicht mein Liebling sspiel?«
Maria schüttelte den Kopf.
»Ich nenne es Gott-Poker«, sagte Klara. »Immer, wenn ich irgendwo herumliege und scheinbar Nichts tue, wenn ich tagelang immer nur dasselbe Lied anhöre, wenn ich schweigsam durch die Straßen gehe, wenn ich tagelang nicht mit Großmutter spreche, so lange, bis sie traurig wird, wenn ich stundenlang auf den See oder in den Himmel starre oder mit Karl und dir am Brunnen sitze und fast nie etwas sage, eigentlich immer, wenn die Leute dann den Kopf über mich schütteln und sich fragen, was nur mit mir los ist, dann spiele ich insgeheim Gott-Poker. Und das, das kann man nur spielen, wenn man ein echter – wie sagtest du – Hasardeur ist.«
Maria lachte. »Und wie geht das, Gott-Poker? Darf ich mitspielen?«
Klara schüttelte den Kopf.
»Das kann man nur zu zweit spielen. Also ich, und Gott. Sonst macht es keinen Sinn.«
»Wie geht es?«
»Ganz einfach«, sagte Klara. »Ich mache solange gar nichts, ich lasse einfach alles laufen, ohne einzugreifen, selbst wenn alles ric htig, richtig schief zu gehen scheint, so dass es für jeden noch halbwegs bei Verstand seienden Menschen so aussehen muss, als hätte ich verdammt, verdammt schlechte Karten, dann steuere ich nicht dagegen, sondern im Gegenteil, dann mache ich vielleicht sogar irgendetwas, damit es noch schlimmer wird, so lange, bis es tatsächlich kurz davor ist, die Grenze zum absolut Unerträglichen zu überschreiten, also zum wirklich Unerträglichen, zu dem, was man nicht mehr rückgängig machen kann, ich wiege also gewissermaßen Gott in Sicherheit, ich erpresse ihn, indem ich abwarte, wie weit er glaubt gehen zu können – und dann, dann reicht es mir plötzlich, und ich hole einen Trumpf aus der Tasche, der Gott mit einem einzigen Zug fertig macht, und dann habe ich gegen Gott im Poker gewonnen, und das kann schließlich nicht jeder.«
»Klara in Führung, 1:0 gegen das Schicksal, unser aller Todfeind«, intonierte Maria und brachte die Hängematte dazu, wild hin und her zu schaukeln, so dass die Blätter auf Klara herab flatterten. »Hört sich gut an. Nur sch ade, dass man es nicht zu Mehreren spielen
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