Gottes Zorn (German Edition)
großen schwarzen Lochs. Er fasste sich an die Stirn, um seinen Schwindel zu dämpfen. Für eine Sekunde hörte er erneut die Schreie und Flüche unten aus der Küche. Mårtens Gebrüll und dann die schrille Verzweiflung seiner Mutter. Gläser, die zersprangen, Möbelstücke, die umgestoßen wurden und polternd zu Boden fielen. Was soll er denn denken, als er mit bloßen Füßen hinunterrennt und sie wie eine Tote auf dem Fußboden liegt?
Die Fotografie von Elna auf der Leiter. Zum tausendsten Mal versuchte er sie auf seine Netzhaut zu projizieren. Was genau war auf diesem Bild eigentlich zu erkennen? Und schließlich seine letzte Erinnerung an Elna, als sie auf seiner Bettkante sitzt und er hofft, dass sie lachen würde, dann jedoch begreift, dass sie weint.
Ich habe nie ihre Augen gesehen, dachte er. Sie lagen immer im Dunkeln. Immer im Schatten.
«Mit Mårten war es weiß Gott nicht immer leicht zu leben», murmelte Siw Wollgren. «Aber mit Elna gewiss auch nicht.»
«Er hat sie doch geschlagen …?»
«Ganz sicher. Und sie ihn. Sie haben sich die ganze Zeit über entsetzlich gestritten. Mårten hatte schließlich ein überschäumendes Temperament und sie ihre Krankheit. Elna konnte furchtbar wütend werden. Aber ich weiß, dass er um sie getrauert hat, als sie verschwand. Eigentlich glaube ich, dass er nie darüber hinweggekommen ist.»
«Und wo ist sie hingegangen?»
«Keine Ahnung. Ich glaube, dass auch Mårten es nie erfahren hat.»
Es wurde still. Nur der tropfende Wasserhahn war zu hören. Mit einem Gefühl, als wäre irgendetwas in seiner Seele zerbrochen, sah er, wie Siw einen Butterkeks nahm und ihn mit einer energischen Handbewegung entzweibrach.
«Ich frag mich … Wann haben Sie ihn eigentlich zuletzt gesehen?»
Sie streckte unwillkürlich den Rücken durch. Vielleicht ahnte sie, worauf er hinauswollte.
«Vor einem Jahr und acht Monaten», antwortete sie mit schneidender Stimme. «Am vierten Juli. Am Nationalfeiertag der Amerikaner.»
Sie kramte einen rosafarbenen Lippenstift und einen kleinen Schminkspiegel aus ihrer Handtasche und zog sich die Lippen nach.
Als sie ihn wieder ansah, war ihr Blick finster.
«Da hat er mir erzählt, dass er sich nicht mehr mit mir treffen könnte. Und dass er vorhatte, mich wegen dieser hochnäsigen Kirchentussi zu verlassen.»
Mehr sagte sie nicht.
Ohne dass einer von beiden es beabsichtigte, stand in diesem Augenblick Helgas hochgewachsene Gestalt, die in ihrer Frömmigkeit unantastbar war, zwischen ihnen. Die Fragen, die Joel noch vorhatte zu stellen, mussten warten. Es werden sich bestimmt noch weitere Gelegenheiten bieten, dachte er.
An der Tür fiel ihm jedoch ein, dass Siw ihm gar nicht gesagt hatte, warum sie ihn eigentlich aufgesucht hatte. Sie wollte doch wohl nicht einfach nur mit dem Sohn des Mannes plaudern, den sie geliebt hatte, oder?
Als Joel sie fragte, wurde sie leicht verlegen.
«Dieses Akkordeon», antwortete sie. «Es war ein Walter. Sehr schön verarbeitet und mit einem phantastischen Klang. Ich bin mir sicher, Mårten hätte gewollt, dass ich es bekomme.»
In einem plötzlichen Impuls schloss Joel sie in die Arme. Sie roch nach irgendeinem billigen Parfüm. Zuerst war sie steif wie ein Brett, doch dann spürte er ihre Hände auf seinem Rücken. Er hörte, wie sie schniefte.
Und Joel wünschte von ganzem Herzen, ihr das rote Akkordeon mit dem schwarzen Balg und den weißen Tasten geben zu können.
Kapitel 22
S ie saß wie immer am Fenster, die Frau mit dem Affengesicht, und murmelte ihre ewigen Flüche vor sich hin.
Die Pflegerin lächelte Fatima entschuldigend zu.
Was sollte man machen?
Inzwischen kannten sie einander recht gut. Die Pflegerin Agnes hatte ihr einmal erzählt, dass sie schon ihr ganzes Leben lang in der Pflege arbeitete. Sie war klein und drahtig, trug einen grauen Zopf auf dem Rücken und war ständig in Bewegung. Eine unterbezahlte Heldin im Wohlfahrtsstaat, dachte Fatima jedes Mal. Zu Mahmouds letztem Geburtstag hatte Agnes eine selbstgebackene Himbeertorte mitgebracht.
«Mahmoud sitzt in seinem Zimmer vorm Fernseher», sagte sie.
Selbst das ließ sie wie eine Entschuldigung klingen, obwohl sie es überhaupt nicht nötig hatte. Wie schon so oft dachte Fatima, dass sie sich irgendwann einmal die Zeit nehmen müsste, Agnes für ihre unendliche Geduld zu danken. Aber heute hatte sie es zu eilig. Außerdem war Agnes mit den anderen Alten beschäftigt.
Die Tür war angelehnt. Als sie einen Blick
Weitere Kostenlose Bücher