Gottfried Benn - der Mann ohne Gedächtnis: Eine Biographie (German Edition)
auch bleiben. Zum einen musste er sich in die alte Umgebung wieder einfinden und dann die eigene wie die Versorgung der zahlreich zu ihm kommenden Patienten sicherstellen. Die sowjetischen Truppen hatten mittlerweile das vierzig Kilometer östlich von Berlin gelegene Strausberg erreicht, und die Intensität der Bombardierungen nahm mit jedem Tag zu.
Am 3. Februar, also bereits am fünften Tag nach Benns Rückkehr, erreichten die Luftangriffe, denen tags darauf das Nazi-Kampfblatt
Völkischer Beobachter
»rein terroristischen Charakter« zusprach, ihren vorläufigen Höhepunkt: Innerhalb von nur 53 Minuten, vormittags zwischen elf und zwölf – öffentliche Luftwarnung und Fliegeralarm waren bereits erfolgt –, griffen 937 Bombenflugzeuge der 1. und 3. Luftdivision der 8. US-Airforce die Stadtteile Kreuzberg, Schöneberg und Tempelhof an. Etwa zweitausend Tonnen Spreng- und Brandbomben ließen die Häuser reihenweise bis zu den Kellern zusammenstürzen. Die durch Phosphorbomben verursachten Brände hielten die Löschtrupps tagelang in Atem. Beinahe dreitausend Menschenleben forderte der Angriff. »Auf den Bayrischen Platz allein kamen 9 Volltreffer«, 61 darunter auch der U-Bahnhof, wodurch die Tunneldecke einstürzte. Dreiundsechzig Tote lagen unter den Trümmern.
Du kannst Dir nicht denken, wie der Bayrische Platz aussieht. Seit dem Tagesangriff vom Samstag steht noch heute Dienstag alles Betroffene in Flammen. … Es ist ein Wunder, daß Benns noch leben. 62
Während Benn die Stunden des Angriffs im Bunker des Schöneberger Rathauses verbrachte, in dem drei Wochen später – während des größten Angriffs überhaupt – durch einen Volltreffer 178 Menschen ums Leben kamen, gingen in seiner Wohnung lediglich die Fenster zu Bruch, die er am Tag darauf notdürftig mit Pappen vernagelte, denn es regnete in Strömen. Fließendes Wasser gab es ebenfalls nicht mehr. Die nächste funktionierende Pumpe war in der Helmstedter Straße: Ecke Grunewaldstraße links und dann die zweite rechts. Rußiger Rauch hing in der feuchten Luft. Schmodder klebte an den Schuhen. Als er sich in die Schlange der Wartenden einreihte, hatte er mehr Zeit, als ihm lieb war, darüber nachzudenken, was eigentlich passierte – mit ihm, seiner Stadt und seinem Land: ein »Lebensabend, wie er im Buche steht«. 63 Warum sind
sie
nicht hier? Brecht, Werfel, Döblin, Broch, die Manns, Feuchtwanger, Bruno Frank, Hermann Kesten, Arnold Zweig …
tua res agitur!
Aber dann ließ er den Gedanken auch schon wieder fallen. Als Kinder hatten sie im Selliner Pfarrhaus täglich, sommers wie winters, den eisernen Schwengel so lange auf und ab gezogen, bis die Eimer voll waren und paarweise auf den Schultern ins Haus geschleppt werden mussten. Erstaunlich genug, dass hier überhaupt alles weiterging – die Patienten kamen vom ersten Tag an. Sie zahlten zwar meist in Naturalien, mal mit zwei Flaschen Grünem Veltliner aus der Wachau, mal mit Muschelsalat oder selbstgebackenem Kuchen. Auch das kannte er ja als Kind nicht anders. Zu Ostern hatte jede Familie aus der Gemeinde frische Eier abzuliefern, ganze Waschkörbe voll, und im Herbst gab es von jedem, der konfirmiert wurde, eine fette Gans. Auf dem Weg zur Pumpe musste er noch in die Jenaer Straße, Pantoponspritze, schnell wirkendes Opiat gegen Schmerzen und Angst. Zum Glück hatten Elisabeth Rexhausen und ihr Angestellter Dr. Gerhard Wilcke noch ihre Apotheke am Bayerischen Platz. Genau zehn Jahre später wird er wieder hier sitzen.
… immer auf eine Bank, die nicht weit von einem kleinen Wasserbassin ist, in dem die Vögel baden. Aus grossen Gedanken mache ich mir nichts mehr, das Nippen u Plantschen genügt mir. Manchmal fliegt ein Vogel mit dem Trunk direct auf einen zu u erst kurz vor der Brust biegt er ab. … Rückweg an dem Brunnen vorbei, richtiger: Pumpe, … natürlich musste ich den Eimer selber tragen, war ja allein u das bischen Wasser schwappte auch mal über. 64
Der Tagesablauf des Dr. med. Benn war vor allem von Versorgungsnöten bestimmt. Inzwischen hatte er ein funktionierendes Netzwerk aufgebaut, das ihm die überlebenswichtigen Dinge sicherte. Drei Männer, Dienstuntergebene, die sich schon in Landsberg um sein Wohl gekümmert hatten, taten dies nun auch in Berlin: Hans Wagner fuhr im letzten Kriegsjahr immer wieder nach Berlin und versorgte die Benns mit frischem Fisch und im Sommer mit Obst, Ernst Pollähne, dem Benn im Jahr zuvor zur Verleihung des
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